Berufswechsel in der Krise: Wenn man plötzlich umsatteln muss
Grenzsoldat beim Bundesheer statt Barkeeper, Pflegeassistent statt Kellner, Laborkraft statt Flugbegleiterin: Nach mehr als einem Jahr Corona-Pandemie können oder wollen viele Arbeitnehmer nicht mehr in ihrem alten Beruf weiterarbeiten – und haben umgesattelt. Die einen wollen nicht nur tatenlos zu Hause herumsitzen oder sehen keine Perspektive mehr in ihrer krisengebeutelten Branche. Die anderen liebäugeln ohnehin mit einer neuen Herausforderung.
Eine Krise, so wissen Arbeitsmarktexperten, ist immer eine Zeit der großen beruflichen Veränderungen. Laut einer Umfrage im Auftrag des Jobportals karriere.at denkt derzeit jeder fünfte Arbeitnehmer in Österreich darüber nach, den aktuellen Job zu wechseln. Besonders junge Menschen, Personen in Kurzarbeit sowie Beschäftigte in der Bundeshauptstadt seien an einem Jobwechsel interessiert, sagt der karriere.at-Geschäftsführer Georg Konjovic.
Großer Job-Frust
Wegen der hohen konjunkturellen Unsicherheit dämpfe die Krise die Wechselbereitschaft generell etwas, zugleich steige aber die Unzufriedenheit in der Arbeit und der Wunsch nach einem krisensicheren Job. Immerhin 15 Prozent der befragten Arbeitnehmer sagen, dass sie mit ihrem derzeitigen Job nicht glücklich sind und sich beruflich verändern wollen.
Die Gelegenheit für einen Berufswechsel ist günstig, denn das AMS hat den Schulungsturbo für den Aufschwung voll angeworfen. Im März befanden sich fast 77.000 Arbeitsuchende in einer Aus- und Weiterbildung oder Umschulung. Das ist immerhin um ein Drittel mehr als noch vor einem Jahr.
Wie viele echte Branchenwechsler darunter sind, lässt sich aus der Statistik nicht ablesen, die Krise hinterlässt aber auffällige Spuren. So hat sich die Zahl der Schulungsteilnehmer aus der Hotellerie und Gastronomie im Jahresabstand auf rund 10.000 verdoppelt. Jeweils weitere 10.000 Teilnehmer kommen aus Handels- und Büroberufen, immerhin 2.000 Kursteilnehmer sind Friseure, weitere 2.000 kommen aus dem Kulturbereich.
"Ich musste Verantwortung übernehmen"
Acht Jahre lang war Stefan S. Barkeeper aus Leidenschaft. Doch als die Pandemie ins Land kam und die Lokale schließen mussten, war der Traum erst einmal vorbei. Weil sein Erspartes wegen der geplanten Hochzeit mit seiner Verlobten stark belastet und die Gastronomie auf absehbare Zeit geschlossen war, entschied er sich, etwas Neues zu probieren – und verpflichtete sich für sechs Monate beim Bundesheer. „Mir ist es schwergefallen, aber ich musste Verantwortung übernehmen“, sagt er. Die Arbeit als Einsatzsoldat an der Grenze sei inzwischen „eine große Motivation“, langfristig lebe aber weiter der Traum von einer eigenen Bar.
"Ein sicherer Job, da muss ich mir keine Sorgen machen"
Die Kärntnerin Anja Kropiunik lebt seit fünf Jahren in Wien und war die längste Zeit als Flugbegleiterin unterwegs. Doch mit Corona und der Luftfahrtkrise war es auch mit dem Job vorbei. Sie fand am Bfi die Ausbildung zur medizinischen Verwaltungsassistenz und ist heute nach einem Spitalspraktikum in einem Labor tätig, wo vom Blut- bis zum PCR-Test alles angeboten wird. „Das ist ein sicherer Job, da muss ich mir keine Sorgen machen“, sagt die 28-Jährige. Sicherheit geht jetzt vor: Corona kostete sie zuerst ihren Job bei der Airline. Als Arbeitslose musste sie auch Wohnung und Studium aufgeben. „2020 war ein turbulentes Jahr.
"Das war für mich fast Glück im Unglück"
Die jahrelange Saisonarbeit als Kellner in diversen Wiener Lokalen hat Nino Stursa (32) sicherlich geprägt. Doch in der coronabedingten Arbeitslosigkeit wurde ihm klar: „Es war hoch an der Zeit, etwas Neues zu versuchen. Es werden viele Betriebe schließen. Jeder zweite Kellner wird keinen Job mehr haben“, lautet seine düstere Prognose. Deshalb lernt Stursa jetzt das Programmieren, und zwar in der neuen „Coder.Bay“ vom Bfi Wien. Eine Bestell-App für das Lokal, bei dem er zuletzt beschäftigt war, hat er schon fertig. „Corona hat die Veränderung sicher beschleunigt. Das war für mich fast Glück im Unglück.“
"Die Chance, noch etwas ganz Neues zu versuchen"
Ganze 33 Jahre war Angelika Bacher in Anwaltskanzleien tätig, bis ihre gesundheitlichen Probleme unerträglich wurden. Spät ging sie auf dreiwöchige Kur – und musste mittendrin abbrechen: Der erste Lockdown war in Kraft getreten. Zurück am Arbeitsplatz hatte sich coronabedingt vieles geändert, Bacher hat „gar nicht mehr reingefunden“, wie sie sagt. Im Sommer hörte sie auf. Sie sah es „als Chance, noch etwas ganz Neues zu versuchen“. Kurz darauf gab ihr ein Immobilienmakler, den sie noch aus der Kanzlei kannte, eine Chance. Seit März ist sie Maklerassistentin in dessen Firma – und glücklich.
"Bei uns liegt die Pflege in der Familie"
Neun Jahre war er in einem Hotel in Baden bei Wien beschäftigt, dann kam Corona. Denis Sacirovic ist gelernter Restaurantfachmann, doch die Gastronomie bietet ihm keine Perspektive mehr. Deshalb will er jetzt umsatteln und Pflegeassistent werden. Die Idee für den neuen Beruf entstand daheim, das AMS will ihn noch immer in der Gastro unterbringen. Doch er hat andere Pläne: „Meine Mutter ist auch in der Pflege tätig, das liegt bei uns in der Familie“, sagt der 34-Jährige. Momentan bewirbt sich Sacirovic beim Roten Kreuz. Bekommt er den Ausbildungsplatz, kann es im September endlich los gehen.
Abschlüsse nachholen
Franz-Josef Lackinger, Geschäftsführer beim bfi Wien, einem der größten Schulungspartner des AMS, bestätigt den derzeit stärksten Zulauf aus dem Tourismus. In eine fremde Branche wechseln, etwa in den Pflege- oder Gesundheitssektor, möchte aber nur ein Teil davon. Die meisten würden sich jetzt im Lockdown weiterqualifizieren. "Aktuell sehen wir eine deutliche Zunahme bei der Nachfrage nach Schul- und Berufsabschlüssen", erzählt Lackinger. "Angesichts der Tatsache, dass ein Lehrabschluss das Risiko, arbeitslos zu werden gegenüber einem Pflichtschulabschluss drittelt, ein sehr erfreulicher Trend."
Abgesehen vom Tourismus seien die Felder IT- und Technik, insbesondere Elektro- und Metalltechnik sowie Gesundheit sehr gefragt. Deutlich mehr Kursbesucher gebe es aber auch bei Ausbildungen im Bereich Meditation, Zeitmanagement und Coaching. Ein Indiz dafür, dass viele Menschen die Krise nutzen, um ihre "Soft Skills" zu verbessern.
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