Automatisierung: Sogar Anwälte und Ärzte sind gefährdet

Ilian Mihov ist seit Oktober 2013 Dekan der Business School INSEAD.
Jobs fallen weg, Einkommen stagnieren – das sei der wahre Grund der Krise, sagt Ökonom und INSEAD-Dekan Ilian Mihov.

Manager für ein zusammenwachsendes Europa ausbilden: Das war die Idee der Eliteschule INSEAD, die 1957 parallel zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde. Der KURIER traf Dekan Ilian Mihov am Rande der Global Business Leaders Conference, die heuer in Wien stattfand.

KURIER: Müssen wir uns Sorgen über den Zustand der Europäischen Union machen?

Ilian Mihov: Ich fürchte ja. Die Stimmung ist ganz anders als Ende der 1950er. Damals haben viele die Integration und das Zusammenwachsen in Europa enthusiastisch begrüßt. Jetzt diskutiert Großbritannien über einen EU-Austritt. Und wir wissen nicht, ob die Schengen-Reisefreiheit die Flüchtlingskrise überstehen wird. Etliche Menschen wünschen sich Grenzen zurück.

Was können die Politiker realistischerweise dagegen tun?

Ich glaube nicht, dass Ausländerhass die Menschen antreibt, sondern die Angst vor Kontrollverlust. Enden wir bei einer, zwei oder zehn Millionen Flüchtlingen? Wir wissen es nicht. Die Öffentlichkeit braucht das Gefühl, dass die Regierungen Herr der Lage sind. Sonst denken sie über Zäune nach. Die bringen nichts, geben aber ein illusorisches Gefühl von Kontrolle.

Griechenland, Flüchtlinge, Ungleichheit – spielt das Thema Solidarität an einer Eliteschule überhaupt eine Rolle? Hat die Krise die Lehrpläne verändert?

Die Industriestaaten erleben einen sozialen Umsturz, ausgehend vom Arbeitsmarkt. Bei den niedrigsten Qualifikationen hat die Beschäftigung in den vergangenen 30 Jahren zwar zugenommen, etwa in Fast-Food-Lokalen. Dafür sind jedoch die Jobs im mittleren Ausbildungssegment extrem zurückgegangen – in der Industrie, aber auch bei Angestellten. Diese Menschen können nicht einfach Ingenieure oder Programmierer werden, sondern steigen ab in die unteren Kategorien. Dort stagnieren die Löhne oder gehen sogar zurück. Das ist die eigentliche Ursache für die Krise.

Inwiefern hängt die Finanzkrise damit zusammen?

Von 1947 bis 1983 sind in den USA die Einkommen der oberen zehn und unteren 90 Prozent parallel gewachsen. Seitdem stagnieren die Niedrigeinkommen. Die Menschen sind aber steigenden Konsum gewöhnt. Deshalb haben sie Kredite aufgenommen, ihr Erspartes aufgezehrt oder zunächst vom Aktien- und später vom Immobilienboom profitiert. Die Verschuldung ist gestiegen. Die Banken haben nur auf diese tiefer liegende Ursache reagiert.

Wie kann man dieses soziale Auseinanderdriften stoppen?

Schwierig. Das Patentrezept lautet oft: Hohe Steuern für Reiche und Umverteilung. Das ist aber keine Langzeitlösung. Wir lieben Technologie und wollen darauf nicht verzichten – sie ist aber der Hauptgrund für die Entwicklung. Die Automatisierung erfasst sogar schon Anwälte und Ärzte.

Wie können denn Computer Ärzte oder Anwälte ersetzen?

Routinejobs wackeln. In den 1970ern musste eine Bank nach einer Klage hunderte Anwälte bezahlen, um zigtausende Dokumente zu durchforsten. Jetzt reichen zwei Anwälte und Google-Search. In den USA wird ernsthaft überlegt, ob Ärzte ihre Diagnosen mit Watson (IBM-Hochleistungscomputer mit lernender Medizindatenbank) abgleichen müssen.

Sie diskutieren in Wien gerade über Innovation: Ein zweischneidiges Thema, wenn es so viele Jobs kosten wird, oder?

Wir müssen uns intensiv den Kopf darüber zerbrechen. In einigen Jahren wird es keine Taxifahrer mehr geben – aber nicht wegen dem Fahrtendienst Uber, sondern wegen selbstfahrender Autos. In Singapur wird seit zehn Jahren über die Zukunft der Arbeit nachgedacht, lebenslanges Lernen ist in aller Munde. In Europa habe ich dazu bisher wenig gehört.

Warum ist das kein Thema?

Weil Politiker über ihre Wiederwahl nachdenken und nicht über das, was in 20 Jahren sein wird. Das ist die große Herausforderung: Wir müssen demokratische Gesellschaften mit ihren kurzfristigen Wahlzyklen und langfristige Planung unter einen Hut bringen. Dafür müssen auch die Menschen den Kuhhandel durchschauen: Dass eine populistische Politik die Zukunftschancen verspielt.

Wer kann sich in seinem Job überhaupt noch sicher fühlen?

Es gibt Studien, wonach Kreativität, Intuition und Empathie als nicht so leicht ersetzbar gelten. Was sollen wir dann unseren Kindern beibringen? Mathematik halte ich zwar für wichtig, aber vielleicht ist das künftig irrelevant, weil ihnen "soft skills" mehr Wege eröffnen würden. Schulen wir sie also doch lieber in Kunst und zwischenmenschlichen Fähigkeiten?

(Link BBC (englisch): Ist Ihr Job gefährdet?)

(Link Dazugehörende Studie (2013): Welche Jobs sind wahrscheinlich von Automatisierung betroffen?)

Ein Themenwechsel: Sie waren Uni-Assistent von Ben Bernanke, dem späteren US-Notenbankchef während der Finanzkrise. Es gilt als großes Glück, dass er Experte für die Große Depression war. Stimmen Sie dem zu?

Viel mehr noch. Es war purer Zufall, aber Ben hatte alles Know-how, das nötig war: Er war natürlich Experte für Geldpolitik, für die Große Depression, er hatte sich aber auch schon vor der Krise intensiv mit Japan beschäftigt und dadurch das Konzept für Quantitative Easing (QE, geldpolitische Lockerung, Anm.) bereits im Kopf, lange bevor es benötigt wurde. Und er hat, ganz wichtig, die zentrale Rolle des Finanzsektors für die Realwirtschaft verstanden. Denn 2008 waren die Stimmen sehr laut, die gefordert haben: Lasst alle Banken krachen, sie haben es verdient. Das hatte auch schon Finanzminister Andrew Mellon in den 1930ern gefordert: "Zerstört alles, die Wirtschaft wird neu starten." Nur ist das nicht eingetreten, sie fiel immer tiefer. Bis Roosevelt (mit den Wirtschafts- und Sozialreformen des New Deal, Anm.) eingegriffen hat.

(Link Paul Krugman zur "Mellon-Doktrin")

Haben die Nullzinsen und die Geldschwemme der Notenbanken die Folgen der Krise nicht einfach nur hinausgezögert?

Nein, die Wirtschaft wäre sonst völlig kollabiert. Die Geldpolitik hat ihren Job gemacht, kann aber keine Wunder wirken.
Jetzt gibt es eine Erholung, die aber sehr schwach ausfällt.

Warum?

Das hat mehrere Gründe. Wenn sich so ein großer Schuldenüberhang im Privatsektor angesammelt hat, sorgt der Abbau (Deleveraging, Anm.) für einen starken Dämpfer. Die Fiskalpolitik der USA war anfangs sehr expansiv, hat dann gestoppt. Die Produktivität wächst in den USA schwach und es kamen ständig Krisen dazu – erst Europa mit Griechenland, dann China.

Noch schwächer ist die Erholung in Europa: Ist die Europäische Zentralbank mit ihrer Geldschwemme (mit QE) zu spät dran und zu zögerlich?

Besser spät als gar nicht. Die US-Notenbank Federal Reserve hat ihre Bilanzsumme während der Krise verfünffacht. Jene der EZB ging rauf, runter, wieder rauf und liegt jetzt ungefähr beim Doppelten. Das ist eine sehr vereinfachte Sicht, aber zeigt: Es gibt Unterschiede. Keine Ahnung warum das so ist, aber Europa reagiert immer zu langsam - das war schon in den 1930ern so, bei der Aufhebung des Goldstandards. Und auch 2008 hat die EZB noch im Juli die Zinsen erhöht, als alle anderen gesenkt haben.

Sind die EZB-Maßnahmen jetzt überhaupt noch wirksam?

In den USA, Europa und Japan stehen wir Ökonomen vor dem Rätsel, dass ein ehemals heiliges Dogma nicht mehr gilt: Dass die Geldpolitik die Inflation bestimmen kann. Wir wollen seit sieben Jahren Inflation herbeiführen und es klappt nicht. Offensichtlich mangelt es im Finanzsektor am Willen oder der Fähigkeit zur Kreditvergabe. Die negativen Einlagenzinsen und Wertpapierkäufe der EZB sind sicher hilfreich. Aber das wirkt nicht über Nacht - nicht einmal in normalen Zeiten. Wenn ich jetzt die Zinsen senke, dauert es 18 bis 24 Monate, bis die Inflation reagiert. Das war übrigens eines jener Forschungspapiere, die ich gemeinsam mit Ben Bernanke verfasst habe.

Apropos: Ihr Mentor Bernanke hatte den Spitznamen „Helikopter Ben“. Landen wir am Ende bei Helikopter-Geld? Dass also die Zentralbank jedem Bürger frisches Geld in die Hand drückt – es gleichsam aus der Luft abwirft?

Dazu müssten wir genauer verstehen, warum der Finanzsektor so handelt. Ist die Regulierung der Banken der Grund, dass sie keine Kredite vergeben? Dann könnte ein Helikopter-Abwurf diese Lähmung umgehen. Wenn aber die Realwirtschaft selbst aus irgendeinem sklerotisch ist und die Menschen davon abhält, Unternehmen zu gründen und Geld auszugeben: Dann würde auch das nichts bringen.

(Link Die eher beiläufige Erwähnung von Milton Friedmans Idee des "Helicopter drop", die Bernanke den Spitznamen einbrachte)

Der Titel der Konferenz in Wien lautet: "Europe, what works!" Wie kann Europa mit den USA in Sachen Innovation mithalten?

Europäische Unternehmen sind höchst innovativ, von Ingenieurwesen bis Pharma. Viele Familienunternehmen sind erfolgreich, bleiben aber immer Familienunternehmen. Es gibt auch großartige Startups in Europa, viele bleiben aber in ihrer Entwicklung stecken. In den USA geht ein Gründer nach vier, fünf Jahren an die Börse, verkauft mit netter Rendite und beginnt etwas Neues.

Was ist daran schuld? Die Rahmenbedingungen, von der Finanzierung bis zur Bürokratie?

Es gibt Hindernisse, aber die erklären längst nicht alles. Viele europäische Länder sind im "Doing Business"-Report der Weltbank ganz gut platziert. Aber sogar einige unserer Absolventen gehen lieber ins Silicon Valley. Viel schwieriger ist es, die Denkweisen zu verändern – die Einstellung der Menschen zum Unternehmertum, zum Scheitern, zum Lernen aus Fehlern.

Was tut INSEAD in diese Richtung?

Wir haben bei uns Unternehmer in Residenz, die als Mentoren für Studenten wirken. Wir wollen den Unternehmergeist auch an die Schulen bringen, zunächst in Singapur, dann in Europa. Dabei erfahren Schüler in zwei oder drei Wochen bei INSEAD, wie man Unternehmen gründet, wie man zu Finanzierungen kommt, wie Produkte gestaltet werden. In Fontainebleau hatten wir bereits 15- und 16-Jährige zu Gast. Sie sollen sich später einmal nicht einschüchtern lassen, ihre Ideen umzusetzen. Denn am Ende sind Innovation und Unternehmensgründungen das einzige, das echtes Wachstum erzeugt.

Ilian Mihov (Jahrgang 1966) stammt aus Bulgarien und ist seit 1996 bei INSEAD. Seit Oktober 2013 leitet er die Wirtschaftshochschule als Dekan von
Singapur aus. Der Experte für Währungs- und Finanzpolitik arbeitet zudem für die Londoner Denkfabrik CEPR. An der US-Universität Princeton war er vier Jahre lang Forschungsassistent von Ben Bernanke, bevor dieser Chef der US-Notenbank wurde.

Über INSEAD

Die Management-Eliteschule wurde 1957 gegründet und hat drei Standorte (Fontainebleau/Paris, Singapur, Abu Dhabi). 148 Mitarbeiter bilden jährlich rund 1300 Teilnehmer in MBA- und Executive-MBA-Programmen. Darüber hinaus nehmen 9500 Führungskräfte an INSEAD-Programmen teil.

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