Arbeitswelt 4.0: Wie sich unsere Jobs verändern

Arbeitswelt 4.0: Wie sich unsere Jobs verändern
Sind die Arbeitszeiten überholt? Oder sollen Firmen die Server abdrehen, damit niemand zu viel arbeitet?

Gewerkschafterin Dwora Stein und Lothar Roitner vom Fachverband Elektro- und Elektronikindustrie kennen einander gut: Sie sitzen in den Lohnverhandlungen an einem Tisch – und auch in der Plattform Industrie 4.0, wo sie darüber diskutieren, wie Österreich zukunftsfit wird oder bleibt.

KURIER: Das Weltwirtschaftsforum in Davos nennt die Digitalisierung bzw. die vierte industrielle Revolution die „größte Herausforderung unserer Zeit“. Ist sie das?

Dwora Stein: Das halte ich für eine Übertreibung, die Digitalisierung findet schon lange statt. Neu ist die Geschwindigkeit. Und dass alle Branchen und Lebensbereiche gleichzeitig betroffen sind.

Lothar Roitner: Ich würde es anders formulieren: Es ist nach vielen Jahrzehnten, in denen der globale Wettbewerb über die Produktionskosten geführt wurde, eine große Chance für Industriestandorte wie Österreich, mit Know-how und Innovation zu punkten und die hohen Sozial- und Umweltstandards zu halten.

Ein Rückkehr von Jobs statt Abwanderung: Sehen wir das denn schon?

Roitner: Die Zahl der Beschäftigten in der Elektro- und Elektronikindustrie ist die letzten 20 Jahre konstant geblieben, obwohl uns praktisch die ganze Produktion der Unterhaltungselektronik weggebrochen ist. Das werte ich als Erfolg. Und ich bin optimistisch. Studien zeigen, dass gerade in unserer Branche 13.000 neue Arbeitsplätze entstehen werden.

Stein: Ja, aber es zeigt die Herausforderung: Gleich viele Beschäftigte, die wesentlich mehr produzieren. Diesen Produktivitätszuwachs und Zuwachs an Wohlstand müssen wir im Auge haben und über die Verteilung nachdenken. Aber es stimmt, Österreich hat eine gute Basis. Von Deindustrialisierung kann bei uns keine Rede sein.

Bringt Industrie 4.0 nicht nur deshalb Kostenvorteile, weil Personal wegfällt?

Roitner: Das glaube ich nicht. Ich verstehe Industrie 4.0 als Digitalisierung der gesamten Produktionskette, begonnen vom Design, über die Vorlieferanten bis hin zur eigentlichen Produktion und zum After-Sales-Service. Unsere Branche steht im globalen Wettbewerb unter gewaltigem Preisdruck. Ich hoffe, dass uns die Technologie hilft, diesen aufzufangen.

Stein: Die Personalkosten sind in vielen Branchen bei Weitem nicht die größte Position, das ist ein vorgeschobenes Argument. Auf der Kostenseite wird Österreich den Wettbewerb nicht gewinnen.

Roitner: Stimmt, Qualität und Innovation sind zwar entscheidend. Aber: Wir stehen auch intern in einem starken Standortwettbewerb, in dem Personalkosten eine sehr große Rolle spielen. Unsere Konzerne sind international aufgestellt und überlegen genau: Wo produzieren wir was?

Stichwort Human Cloud oder Crowdworking: Firmen können Dienstleistungen bereits bei selbstständigen Einzelkämpfern irgendwo in der Welt zukaufen. Wie können da noch Kollektivverträge und das Arbeitsrecht durchgesetzt werden?

Stein: Eine spannende Frage. Wir können in Europa beobachten, dass kollektive Regelungen insgesamt unter Druck geraten. Das hängt aber eher mit dem Sparwahn zusammen als mit der Digitalisierung. Crowdworking ist in Österreich noch nicht weit verbreitet, aber wir beobachten das sehr aufmerksam, weil es eine sehr spezielle Form der Ausbeutung ist.

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Roitner: Diese Gefahr sehe ich nicht, aber die Chance: Die jüngere Generation hat eine geänderte Einstellung zur Arbeit und will mehr Zeit für Familie und Freunde. Es wird neue Formen des Arbeitens geben, vielfach werden Grenzen zwischen Arbeitnehmer und Unternehmer verschwimmen: Menschen docken zeitweise an ein Unternehmen an und sind dann wieder einzelunternehmerisch tätig.

Stein: Diesen Graubereich gibt es doch seit Jahren. Meist sind das klassische Angestelltenverhältnisse, die nur anders heißen. Die Frage ist: Welche Sicherheiten haben diese Menschen? Sollten tatsächlich neue Formen der Arbeit entstehen, werden kreative Kollektivverträge möglich sein. Auf ein Beispiel einer Innovation im Kollektivvertrag sind wir beide zu Recht stolz – die Freizeitoption.

KURIER: Freizeitoption heißt?

Stein: 2013 ist bei den KV-Verhandlungen vereinbart worden, dass auf die Gehaltserhöhung verzichtet und stattdessen mehr Freizeit beansprucht werden kann. Und das auf Dauer. Eine echte Pionierarbeit mit dem FEEI. Dagegen hat es bei uns große Skepsis geben. (Roitner: Bei uns auch.) In der Zwischenzeit hat das Schule in anderen Branchen gemacht. Uns hat überrascht, dass viele Jüngere davon Gebrauch machen.

Roitner: Uns auch. Wir hätten erwartet, dass die Älteren die Option in Anspruch nehmen, weil sie am meisten verdienen und weniger Verpflichtungen haben. Das zeigt, wie sich Einstellungen verändern: Der Freizeitaspekt erhält mehr Wert. Was mich zum Thema flexible Arbeitszeit bringt.

Flexible Arbeitszeit kann heißen, dass ich meinem Sohn nachmittags beim Fußballmatch zuschauen kann. Oder aber 7 Tage und 24 Stunden auf Abruf verfügbar sein soll.

Roitner: Knallhart gesagt: Wir müssen das Arbeitszeitgesetz völlig neu schreiben. Ich halte die starren Begrenzungen für kontraproduktiv. Wir haben Mütter, die würden gern am Vormittag arbeiten, dann das Kind abholen und später zuhause am Computer zwei Stunden nachschießen – das ist aber leider nicht erlaubt.

Stein: Na, das müssen wir uns genauer anschauen. Das Gesetz ließe das zu, es kommt aber auf die Uhrzeit an. Und so locker flockig ist das nicht, als Mutter oder Vater nebenher zuhause zu arbeiten. Arbeitszeitbegrenzungen sind Schutzbestimmungen, die gelten auch in Zeiten der Digitalisierung. Und das Gesetz erlaubt bereits jetzt viel Flexibilität, die gar nicht genützt wird.

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Welche zusätzliche Flexibilität wäre denn aus Sicht der Gewerkschaft akzeptabel?

Stein: Flexibilisierung kann jedenfalls keine Einbahnstraße sein, da müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer etwas davon haben. Wir denken da auch an eine klare Verkürzung der Arbeitszeit. Die Freizeit-Option ist eine Form davon. Wobei: Das eigentliche Streitthema ist der Zwölf-Stunden-Tag. Der ist laut KV möglich, allerdings mit Überstunden, nicht als normale Arbeitszeit. Das hält man auch nicht jahre- oder jahrzehntelang durch.

Roitner: Es ist doch ein gewaltiger Unterschied, ob ich am Hochofen stehe oder am Schreibtisch sitze. Viele Techniker und Softwareentwickler fühlen sich eher gestört, wenn sie nach zehn Stunden die Tastatur weglegen müssen. Arbeitszeitverkürzung schafft keine neuen Arbeitsplätze, das stimmt weniger denn je. Stimmt, die Freizeitoption ist eine kleine Form davon – aber ohne Lohnausgleich.

Stein: Das könnten wir endlos diskutieren. Historisch ist der Fortschritt mit Arbeitszeitverkürzung verbunden – und das war eine Erfolgsgeschichte. Der Gegensatz Hochofen-Arbeiter und Angestellter stimmt auch nicht. Wie wir wissen sind psychische Belastungen die Hauptursache für schwere Erkrankungen und die Berufsunfähigkeitspension. Die, die ausstempeln und weiterarbeiten, kenne ich auch. Wie lange machen die das? Fünf, zehn Jahre?

Ist das ein spezielles Thema der digitalen Welt, weil man 24 Stunden erreichbar ist?

Stein: Natürlich, es ist ja auch verlockend. Ich bin verblüfft, dass manche Menschen glauben, wenn sie erreichbar sind oder unterwegs Mails beantworten, ist das keine Arbeit. Das gehört natürlich dazu gerechnet und auch bezahlt.

Roitner: Eine gewisse Flexibilität ist notwendig, aber 24 Stunden Verfügbarkeit fordert kein Mensch. Man sollte das auch vom Thema Industrie 4.0 entkoppeln.

Stein: Es gibt auch unausgesprochene Erwartungen. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sind Arbeitnehmer für solche subtilen Botschaften empfänglicher. Firmen könnten aber durch technische Lösungen dafür sorgen, dass niemand nach 22 Uhr oder am Feiertag arbeitet.

Roitner: Server abdrehen?

Stein: Zum Beispiel. In Deutschland handhaben das große Unternehmen so.

Roitner: Aber das ist doch anachronistisch! Manche Menschen sind privat ständig online – ich fühle mich dadurch nicht belastet.

Stein: Wir entscheiden das selbst. Aber davon dürfen wir nicht auf die Masse der Arbeitnehmer schließen. Primär geht es da aber um Bewusstseinsschaffung.

Roitner: Warum sollten Mitarbeiter in einem Produktionsprozess, der komplett digitalisiert ist, rund um die Uhr erreichbar sein müssen? Wenn die Schicht vorbei ist, gehen sie nachhause. Da ist kein Zusammenhang, das ist ein gedanklicher Kurzschluss.

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Die Halbwertszeit des Wissens ist kürzer denn je. Was heißt das für das Bildungssystem?

Roitner: Ich habe da einen radikalen Ansatz: Man müsste das gesamte Bildungshaus Österreich neu bauen. Unser System stammt aus der Zeit von Maria Theresia (Stein: Und hat gute Dienste geleistet). Ja, aber ob man damit für eine technisch-digitalisierte Welt gut aufgestellt ist? Derzeit sehe ich das nicht. Bereits jetzt ist der technische Fachkräftemangel eklatant.

Stein: Unser Standard ist gut, aber ich sehe auch radikalen Reformbedarf. Allerdings nicht im Sinne der Spezialisierung. Uns geht es um eine breite Allgemeinbildung, um die Fähigkeit, mit Technik und IT umzugehen, sich Neues rasch aneignen und an der Entwicklung mitarbeiten zu können. Wichtig ist aber, dass auch in die Weiterqualifizierung jener Menschen investiert wird, die schon im Arbeitsprozess stehen.

Roitner: Humanistische Inhalte, von Ethik bis zu Lerntechnik, sollen nicht zu kurz kommen. Aber eine Basis müssen die Naturwissenschaften, ein Basiswissen in Mathematik und Physik vorhanden sein. Das ist derzeit gar nicht der Fall. Wir werden aber in wenigen Jahren viele Menschen mit dieser Grundlage brauchen.

Neues fällt uns viel ein, aber was lassen wir im Lehrplan weg?

Stein: Unglaublich viel Detailwissen. Man muss nicht alle Flüsse in der Ukraine kennen.

Roitner: Ich habe drei Mal in acht Jahren gelernt, wie sich gewisse Insekten häuten.

Stein: Und ich, was im Donezker Becken produziert wird. Heute ist das vermutlich etwas ganz anderes. Dieses Wissen ist jederzeit verfügbar. Es geht um Zusammenhänge, um Urteilsfähigkeit, um Sprachen, um Werthaltungen. Darum, sich ein Bild von der Welt machen zu können. Die Naturwissenschaften sind wichtig, alleine greifen sie dafür aber zu kurz.

Roitner: Das schließt einander nicht aus. Gerade in der Industrie 4.0 sind kreative Menschen unverzichtbar. Wir diskutieren stattdessen, ob die Lehrer bei Bund oder Ländern angestellt sind. Das geht am Thema völlig vorbei.

Die Angst vor dem Jobverlust durch die Digitalisierung geht um. Wie verhindert man, dass das zu Abwehrreflexen führt?

Roitner: Die Frage: Wollen wir Industrie 4.0 in Österreich, stellt sich nicht. Das kommt. Die Frage ist, welche Volkswirtschaften sind vorne dabei, und welche werden überholt. Am meisten fürchten sich die Menschen vor dem, was sie nicht kennen. Unsere Plattform ist ein guter Ansatz, um offen zu diskutieren und zu informieren.

Stein: Das sehe ich genau so. Wir müssen mit dabei sein. Ich halte es für völlig falsch, apokalyptische Szenarien zu zeichnen. Studien, wie viele Arbeitsplätze das kostet oder bringt, sind nicht mehr als ein Blick in die Glaskugel. Das Ziel der Plattform ist klar formuliert: Industrie 4.0 zur Steigerung des Wohlstandes zu nutzen. Davon müssen alle etwas haben. Die digitale Dividende darf nicht nur an die Reichen, die Fabrikbesitzer fallen, sondern auch an die Arbeitnehmer. Denn die Roboter werden nicht einkaufen gehen. Wenn das Ziel glaubhaft lautet, den Wohlstand für alle zu heben und in die zu investieren, die sonst auf der Strecke bleiben, kann man die Ängste nehmen. Wenn das nicht gelingt, haben wir ein echtes Problem.

Brauchen wir neue oder andere Steuern, damit das Sozialsystem finanzierbar bleibt – Stichwort Wertschöpfungsabgabe?

Roitner: Mehr für alle gibt es dann, wenn wir erfolgreiche Unternehmen im Land haben. Österreichs Arbeitnehmer erhalten die Produktivitätsfortschritte in der Regel über die Lohnverhandlungen abgegolten, das soll auch so bleiben. Unsere Branche ist eine, die die höchsten Löhne zahlt. Natürlich hängt unser Steuersystem zu stark an den Lohn- und Gehaltskosten, das muss diskutiert werden. Aber ich schätze es nicht, wenn dabei vorschnell nach neuen Steuern gerufen wird, ohne dass über einen effizienteren Staat nachgedacht wird.

Stein: Der Anteil, den die Arbeitnehmer am Steueraufkommen tragen müssen, steigt und steigt. Das Sozialsystem ist und bleibt finanzierbar, aber nicht über die Lohnkosten allein. Diese Finanzierung stammt noch aus einer anderen Welt. Da geht es nicht um Begriffe, sondern wir brauchen Neues. Es wäre verantwortungslos, diese Debatte nicht zu führen.

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Beim Thema Digitalisierung denkt man zuerst an US-Konzerne wie Google, Amazon und Uber. Wie sieht das typische österreichische Unternehmen aus?

Roitner: Unsere Unternehmen leben Industrie 4.0 schon. Manche vielleicht noch auf einer Stufe 3.8, andere sind schon bei 4.2 angekommen. Eine EU-weite Studie zählte Österreich mit Irland, Deutschland und Schweden zu den Pionieren der Digitalisierung, weil unsere Industrie bei zwei Schlüsselbereichen stark ist: dem Maschinenbau und der Elektro- und Elektronikindustrie. Das ist kein Zufall, wir dürfen es aber nicht verspielen. Leider weiß kaum jemand, dass wir eine der wichtigsten Elektronik-Bauelemente-Branchen in Europa haben. Bauteile von unseren Firmen stecken fast überall drin – inklusive Apples iPhone. In einigen Unternehmen fertigen Roboter schon Seite an Seite mit Menschen in Reinräumen. Und einige Autozulieferer produzieren Zubehörteile wie Elektronik oder Scheinwerfer für x unterschiedliche Modelle gleichzeitig und in einer Fertigungsreihe.

Stein: Was beweist, dass der Standort Österreich nicht abgesandelt ist. Im Gegenteil.

Zu stoppen ist der Zug in Richtung Industrie 4.0 nicht. Wie kann man ihn steuern?

Stein: Das ist eine Aufgabe unserer Plattform, da gibt es noch viel zu tun. Ich bin dagegen, Digitalisierung zum Naturereignis zu stilisieren. Das ist keine Welle, die uns überrollt. Es ist eine Innovation, die wie jede andere viele Ausprägungen hat und gestaltet werden kann und muss.

Roitner: Österreich ist gut aufgestellt, diesen Vorsprung darf man nicht verspielen. In der Bildung ist akuter Handlungsbedarf. Zudem muss die Politik die Stärkefelder unserer Industrie erkennen und Forschung und Entwicklung in diesen Bereichen – etwa Mikroelektronik oder Sensorik – gezielter und mehr fördern.

Der Verein Plattform Industrie 4.0 wurde 2015 gegründet und hat aktuell 32 Mitglieder – Arbeitnehmer und -geber, Forschungsinstitute und Firmen – von AVL List bis Zumtobel.

Dwora Stein (61) ist seit 2005 Bundesgeschäftsführerin der GPA, der Gewerkschaft der Privatangestellten.

Lothar Roitner (59) ist seit 1982 im FEEI – Fachverband der Elektro- und Elektronikindustrie, seit 2002 als Geschäftsführer.

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