Von Influencern und Stimmakrobaten
Sie kann sich noch genau erinnern, an welchem Platz im Hörsaal an der University of Pennsylvania sie saß, als sie zum ersten Mal von Konrad Lorenz und seiner Forschung hörte. Dass Sonia Kleindorfer rund 30 Jahre später in seine Fußstapfen treten würde, hätte die Ornithologin und Verhaltensforscherin nicht gedacht. „Als 2018 die Leitung der Konrad Lorenz-Forschungsstelle in Grünau ausgeschrieben wurde, habe ich mich beworben“, erzählt sie. „Ich war neugierig darauf, die Graugänse näher kennenzulernen.“ Enttäuscht wurde sie nicht. „Die kognitiven Fähigkeiten der Graugänse sind enorm“, so die Wissenschafterin. „Sie haben mehr drauf, als wir geahnt haben.“
Graugänse haben viel mehr drauf, als wir geahnt haben. Ihre kognitiven Fähigkeiten sind enorm
Individuelle Merkmale
Die Graugänse im Almtal zählen zu den am längsten erforschten Tieren der Welt. Bereits 1952 begann Konrad Lorenz mit systematischen Aufzeichnungen. Dennoch lassen sich viele neue und faszinierende Erkenntnisse über ihr Verhalten gewinnen. „Einerseits liegt es daran, dass sich die Welt verändert und uns neue Technologien zur Verfügung stehen“, erklärt Sonia Kleindorfer. „Andererseits gehen der Wissenschaft die Fragen niemals aus.“
Und doch wird auch auf Bestehendes zurückgegriffen. „Wir haben tausende von Fotos in unserer Datenbank“, erzählt die Wissenschafterin. „Mit Hilfe eines KI-Programms wollten wir individuelle Merkmale herausarbeiten.“ Graugänse haben individuelle Merkmale an ihrem Schnabel, anhand derer sie sich unterscheiden. „Das betrifft die Rillen und Ritzen, aber auch den Anteil an Rosa und Orange sowie die weißen Federn unter- und oberhalb des Schnabels“, so Kleindorfer. „KI kann mit 98-prozentiger Sicherheit alle Graugänse aus den tausenden Fotos identifizieren.“ Noch spannender ist aber, dass es auch die Graugänse können. Das wurde mit Experimenten bewiesen. „Wir haben lebensgroße Pappfotos von Graugänsen in die Wiese gestellt“, erzählt die Ornithologin. „Dabei konnten wir feststellen, dass die jeweiligen Partner deren Nähe suchten.“
Verschiedene Stimmen
Künstliche Intelligenz half auch beim Erforschen der Kommunikation der Graugänse. Es war bekannt, dass sie zehn verschiedene Laute haben. Nähert man sich allerdings einer Schar, so nimmt man als Mensch nur lautes Geschnatter wahr. „Wir konnten nun nachweisen, dass jede Graugans eine eigene Signatur hat“, so Kleindorfer. „Der Warnruf von Lea kann von den anderen von dem Edes unterschieden werden.“ Möglich ist es den Tieren, da sie Informationen zehn Mal schneller verarbeiten können als Säugetiere. „Sie nehmen also nicht nur Geschnatter wahr, sondern unterscheiden, welche Ruftypen es sind und von welchem Individuum sie stammen“, sagt die Wissenschafterin. „Sie wissen also anhand vom Gesicht, wer wo steht, darüber hinaus erkennen sie andere an der Stimme.“
Jede Graugans hat eine eigene Persönlichkeit. Bei Bedrohung von außen ist aber das Kollektiv wichtig
Rollenverteilung
Eine spannende Erkenntnis ist, dass die Tiere einen eigenen Charakter aufweisen. „Es gibt fünf Persönlichkeitsachsen: Mut, Erkundungsfreudigkeit, Aggressivität, Soziabilität und Aktivität“, sagt Kleindorfer. Daher wissen die Forscher*innen, welche Graugans zu den Influencern zählt, der andere Tiere folgen, welche besonders neugierig ist und neue Futterplätze entdeckt und welche aggressiv ist und durch die Dominanz das soziale Gefüge zusammenhält. „Keine Persönlichkeit ist besser als die andere, weil sie Rollen erfüllen“, betont die Ornithologin. „Graugänse haben eine starke Individualität und einen guten Zusammenhalt. Das sichert ihre Überlebensfähigkeit als Beutetiere.“
Wer mehr über die Graugänse erfahren will, kann im Open Science Center in Grünau an Public-Science-Projekten teilnehmen.