Als aus Männern Kinder wurden

Als vermeintliche Helden zogen Soldaten in den Krieg. Zurückgekehrt sind sie als verstümmelte, traumatisierte Männer. Frauen wurden medial zu ihren persönlichen Krankenschwestern stilisiert.
Seelische und körperliche Verletzungen veränderten das Verhältnis von Mann und Frau.

Lachende Gesichter, freudig geschwenkte Kappen, eine Frau greift zum Abschied nach der Hand eines Soldaten: „Treibjagd Richtung Paris“ steht auf den Waggons. Als Helden ziehen die Soldaten in den Krieg.

Als aus Männern Kinder wurden
Download von www.picturedesk.com am 07.01.2014 (18:05). Deutsche kriegsgeschädigte Soldaten demonstrieren für eine weitere kostenlose Behandlung ihrer Verwundungen und der Zahlung einer Kriegsbeschädigtenrente., 01.01.1919-31.12.1919 - 19190101_PD0947
Ihre Rückkehr verlief weniger heldenhaft: Verstümmelt, erblindet und traumatisiert kehrten viele von der Front zurück. „Der Erste Weltkrieg produzierte nicht nur tote Opfer, sondern auch lebende: Männer und Frauen, die an Leib und Seele Schaden genommen hatten“, analysiert Rainer Gries. Der Historiker und Kommunikationswissenschaftler lehrt und forscht am Historischen Institut der Universität Jena sowie an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien und ist überzeugt, dass der Krieg die Gesellschaft und das Beziehungsleben der Menschen bis in ihre Grundfesten erschüttert hat.

Insbesondere Männer mussten die Verwundung als tiefe Zäsur hinnehmen. Und dies psychisch verarbeiten: „Vom hart arbeitenden Mann, Soldaten und Helden des Krieges hin zum angeschlagenen, amputierten, nicht mehr funktionstüchtigen, pflegebedürftigen Kind“, sagt Gries.

Machtverhältnisse

In einer bisher patriarchal ausgerichteten Paarbeziehung veränderten sich die Machtverhältnisse: „Die körperlichen Beeinträchtigungen unterminierten die männliche Dominanz in den Familien. Kriegsversehrte waren unselbstständig, womöglich dauernd auf die Hilfe ihrer Ehefrauen angewiesen.“ Letztere wurden in den Medien zu persönlichen Krankenschwestern und fürsorgenden Müttern stilisiert, die ihre lädierten Männer wie kranke Kinder pflegen sollten. Gries sieht hier „das Ende einer erotisch begründeten Partnerschaft.“ Er erklärt die damals offizielle Botschaft an die Frauen: „Sie sollten sich über die Heimkehr des Mannes freuen und alle zusätzlichen Belastungen infolge der häuslichen Pflege und der zusätzlichen Arbeit selbstlos auf sich nehmen. Denn sie waren nun für das Haupteinkommen in der Familie verantwortlich. Für ihre Klagen und Ängste gab es freilich keinen Raum in den Medien.“

Frauen, die sich von ihren versehrten Männern trennen wollten, wurde öffentlich ins Gewissen geredet. So appellierte „Das praktische Blatt“ 1919 an seine Leserinnen, dass die im Krieg erlittenen Schäden – körperlich und seelisch – kein Scheidungsgrund seien.

Ausgrenzung

Viele invalide Männer, die keinen familiären Rückhalt hatten, fristeten ihr Dasein auf der Straße. Als Ausgegrenzte. Andere wiederum verbargen sich ob ihrer schweren Gesichtsverletzungen lebenslang hinter Klinikmauern. Dort trieben sie unfreiwillig die medizinische Forschung voran – etwa in der plastischen Chirurgie, in der Versorgung von Hirnverletzungen und in der Erforschung des Phantomschmerzes. „Von den technischen Erfahrungen dieses Krieges profitiert man in vielen Bereichen der Medizin und Prothetik bis in unsere Gegenwart hinein“, sagt der Universitätsprofessor.

Simulanten

Unübersehbar waren auch die seelischen Qualen: Der Schriftsteller Stefan Troller schrieb über Wien in der Nachkriegszeit: Am verstörendsten seien die „Schüttler“ oder auch „Kriegszitterer“ „mit ihren unbremsbar wackelnden Köpfen“. Bei den damaligen Militär-Psychiatern stießen sie auf wenig Wissen und kein Verständnis. Sie galten schlichtweg als „Simulanten“.

Hilfe und Behandlungsmöglichkeiten gab es nur in geringem Umfang. Rainer Gries abschließend: „Sowohl die Männer als auch die Frauen blieben mit den physischen wie psychischen Folgelasten des Kriegs weitgehend auf sich allein gestellt.“

Morgen:Neues Lebensgefühl – als die Gegenwart begründet wurde.

Die erste moderne Prothese ist ein Produkt des Ersten Weltkrieges. Sie erlaubte Versehrten einfache Bewegungen. Medizinische Fortschritte wie diese wurden nach dem Krieg medial verbreitet: Die Invaliden wurden vielfach in der Pose des Kriegshelden in Szene gesetzt. Kommunikationswissenschaftler Rainer Gries analysiert: „Kriegsversehrte wurden einerseits als namenloses ‚Menschenmaterial‘ des Krieges vorgeführt. Andererseits ließen sich an ihnen die wissenschaftlich begründeten Wunder der Moderne aufzeigen: Sie waren zwar nicht heilbar, aber ‚reparabel‘.“ Es sollte gezeigt werden, dass die neue Gesellschaft auch für diese Menschen sorgt und sie als Männer und Mitbürger wiederherstellen kann. Doch wenn man diese Fotos genau anschaut, zeigt sich: „Nicht Heldentum, Stolz oder Willensstärke sprechen aus den Augen und Gesichtern der Prothesenträger, sondern menschliches Unglück, Leere und Verzweiflung.“

Für den Historiker sind diese Bilder höchst zweideutig: „Der versehrte Körper konnte als Argument gegen – wie auch für – den nächsten Krieg eingesetzt werden. Die Fotos lassen sich als Zeichen der Barbarei des modernen Krieges lesen – und als Zeugen für die Zivilisiertheit der modernen Gesellschaft, die Verletzte sowie Verstümmelten nicht im Stich lässt und ihr Bestes gibt, um sie medizinisch zu versorgen.“

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