Das Erbe von Dior: In 60 Tagen zum Triumph

Polyfilm Dior und ich © Jean-Jacques Poucel/Courtesy of CIM Productions
Die Doku "Dior und ich" zeigt auf intime Weise den Beginn der Ära Raf Simons im legendären Modehaus. Und wie eine Couture-Kollektion entsteht.

Haute Couture: Das ist grenzenlose Fantasie und hemmungslose Kreativität. Das sind edle Stoffe, komplizierte Färbe-, Falt- und Web-Techniken, raffinierte Schnitte, aufwendige Stickereien. Das ist Tradition gemischt mit Avantgarde – und Handarbeit vom Feinsten. Die Menschen dahinter: Frauen und Männer im weißen Arbeitsmantel, französisch "Les Petites Mains", die kleinen Hände, genannt. Sie schaffen in stundenlanger Arbeit Tag für Tag aus empfindlichsten Materialien einmalige Wunderwerke. Mit Können, Geduld und Ausdauer.

Acht Wochen Zeit

Normalerweise hat ein Modehaus sechs Monate Zeit, um im Jänner eine Frühjahrs-Couture und im Juli die Herbstkollektion in Paris auf Mannequin-Beine zu stellen. Außer man heißt Raf Simons, wird am 9. April 2012 zum neuen Chefdesigner der Damenmode im Hause Dior bestellt und hat sich bereit erklärt, zum bereits fixierten Termin – dem 2. Juli – seine erste Haute- Couture-Show zu zeigen.

Von der Modewelt wurde sie mit ungeheurer Spannung erwartet. Raf Simons war bis dahin zunächst bekannt für seine revolutionäre Männermode und dann auch durch seine Trend-bestimmende Arbeit bei Jil Sander (von 2005 bis 2012). Wie würde der 44-jährige Belgier dem Druck des Erbes von Dior gerecht werden – und das noch dazu in so kurzer Zeit?

Das Erbe von Dior: In 60 Tagen zum Triumph
Polyfilm Dior und ich © Jean-Jacques Poucel/Courtesy of CIM Productions
Acht Wochen waren es schließlich vom tatsächlichen Beginn der Arbeit bis zum Ende. Wie kreativ, wie professionell, wie stressig, wie aufregend, wie spannend, wie hektisch, wie liebevoll, wie hart an die Grenzen, wie herzlich diese acht Wochen für Raf Simons und das Team verliefen, zeigt die Film-Dokumentation "Dior und ich" (ab 4. September im Wiener Filmcasino und im Village Cinema W3, in Linz, Wels, Graz, Salzburg und Dornbirn; Innsbruck und Villach folgen im Oktober).

Die Fashion-Dokumentation gewährt nie gesehene, private Einblicke in die vielschichtige Welt von Dior. Dem US-Amerikaner Frédéric Tcheng, verantwortlich für Regie, Drehbuch und Produktion, gelang nicht nur ein einmaliger Blick hinter die Kulissen des legendären Modehauses und auf das perfekte Zusammenspiels eines leidenschaftlichen Teams. Er kommt auch Raf Simons, dem scheuen Künstler, ungewöhnlich nahe. Dabei zeigen sich überraschende Parallelen zu Christian Dior. Der in seiner Autobiografie "Dior by Dior" (Weidenfeld & Nicolson, 1957) – von der im Film auch einiges aus dem Off zu hören ist – über sich selbst als Modeschöpfer sagte: "Es gibt zwei Christian Diors. Den öffentlichen Christian Dior und den Privatmann Christian Dior – und sie scheinen immer weiter auseinanderzudriften."

Herausforderung

Daher wohl der Titel "Dior und ich". Wobei: Mit "ich" könnte auch Raf Simons, der Regisseur oder jeder Zuschauer gemeint sein. Doch zurück zur Handlung. Bei Simons erstem Besuch in der Avenue Montaigne Nr. 30 – in den lichtdurchfluteten Räumen im obersten Stock des historischen Gebäudes – erfährt er, dass dort viele Schneiderinnen und Schneider schon seit mehr als 40 Jahren arbeiten. Der Film zeigt, wie Simons in den Archiven eine 60 Jahre alte Webtechnik, bei der der Faden bedruckt wird, bevor er gewebt wird, entdeckt. Das bringt ihn auf die Idee, die abstrakten Bilder des Malers Sterling Ruby für Kleider zu übernehmen. Eine riesen Herausforderung für die Stoffdesigner.

Die Kamera wurde auch nicht ausgeschaltet, als Raf die Nerven verliert, weil das Kleid zur Kontrolle nicht rechtzeitig wie ausgemacht fertig wurde. Die verantwortliche Atelier-Leiterin war nach New York geflogen, um dort den Wunsch einer Kundin zu erfüllen. Raf schimpft, als es dann endlich so weit ist. Die Erklärung der Gescholtenen: "Wenn eine Kundin im Jahr 350.000 Euro für Dior-Garderobe ausgibt, muss ihr Wunsch erfüllt werden."

Knapp vor dem Tag der Show hat Raf Simons noch eine Idee: Da Christian Dior Blumen über alles liebte, lässt er die Wände der Räume, in denen die Show stattfindet, mit einer Million Blüten in Blau, Gelb, Weiß und Rot bedecken. Atemberaubend.

Zu Tränen gerührt

"Atemberaubend", so beurteilte die Zeitschrift Variety auch den Film – was Eingang in das Filmplakat (siehe oben) fand. "Unerhört fesselnd" urteilte die Financial Times. Style.com schrieb online: "Die Mode-Dokumentation des Jahrzehnts." Und das Modemagazin Elle: "Ganz einfach der beste Film über Mode."

Dem kann man nur zustimmen. Nicht nur der ansonsten so zurückhaltende Raf Simons ist am Ende der Show/des Films zu Tränen gerührt.

Das Erbe von Dior: In 60 Tagen zum Triumph
Christian Dior
Er war ein scheuer Mensch und schaffte es dennoch, seinen Namen in nur zehn Jahren am Weltmarkt zu etablieren. Unauslöschlich.
1905 in Granville in der Normandie als Sohn eines Großindustriellen geboren, stieg Christian Dior nach einer Zeit als Galerist erst 1931 mit Hut-Skizzen für die Zeitung Le Figaro in Paris ins Modebusiness ein. Dann musste er allerdings zum Wehrdienst. 1941 zog er von Paris nach Südfrankreich, um eine Obstplantage zu betreiben. 1943 kehrte er zurück und arbeitete für das Modehaus Pierre Balmain, ehe er mithilfe des reichen Textilfabrikanten Marcel Boussac sein Haute-Couture-Haus in der Avenue Montaigne gründete. Mit einem Grundkapital von 60 Millionen Francs.

New Look & ein Duft

Das Erbe von Dior: In 60 Tagen zum Triumph
00/00/1947. Paris. This model is presenting the BAR lady's suit by Christian Dior which was a great success of the New-Look.En 1947, à Paris, ce mannequin présente le tailleur BAR de Christian DIOR, grand succès du New-Look.
Bereits die erste Kollektion, die er im Februar 1947 vorstellte, wurde international gefeiert. Dior hatte sie, inspiriert von seiner außerordentlichen Liebe zu Blumen, „Ligne Corolle“ (Blütenkelch-Linie) genannt. Doch die amerikanische Journalistin Carmel Snow pries seine Mode als „New Look“ und unter diesem Namen ging sie schließlich in die Modegeschichte ein. Dior lancierte noch im selben Jahr sein erstes Parfüm, „Miss Dior“ – ein Welterfolg bis heute. 1949 eröffnete er seine erste Boutique in New York. Mitte der 1950er-Jahre beschäftigte er bereits über 900 Mitarbeiter.

Als Christian Dior während einer Fastenkur in Italien 1957 stirbt, hat er maßgeblich dazu beigetragen, dass sich Paris als Modehauptstadt der Welt behaupten konnte.

Die Ära Simons

Zunächst übernimmt sein Assistent Yves Saint Laurent die künstlerische Leitung des Hauses. Der ist Finanzier Marcel Boussac aber nicht genehm und er ersetzt das Genie durch Marc Bohan. Dieser „regiert“ von 1961 bis 1989. Ihm folgt ein Italiener, Gianfranco Ferré, der 1997 von John Galliano abgelöst wird. Nach dessen unrühmlichem Abgang 2011 übernimmt im April 2012 der Belgier Raf Simons die Regentschaft über die Damenmode und die Accessoires. Für die Herrenmode ist seit 2007 ebenfalls ein Belgier, Kris Van Assche, zuständig.

Dass man mit Raf Simons ein Trumpf-Ass gezogen hat, muss selbst Leuten, die offenbar wenig von Mode verstehen und daher an seiner Legitimation gezweifelt hatten, inzwischen klar sein. Denn: Bereits im ersten Jahr steigerte sich der Umsatz des Hauses auch durch den geniale Vermittler zwischen grandioser Tradition und vorweggenommenem Zeitgeist von morgen um über 20 Prozent. Gerade wurden die Zahlen für heuer bekannt gegeben: Der Umsatz in den ersten sechs Monaten stieg wieder, um 22 Prozent.

VIPs tragen Dior

Das Erbe von Dior: In 60 Tagen zum Triumph
Actress Marion Cotillard wears a Christian Dior gown as she arrives at the 87th Academy Awards in Hollywood, California February 22, 2015. REUTERS/Mario Anzuoni (UNITED STATES - Tags: ENTERTAINMENT) (OSCARS-SHOW)
Dass die schönsten Frauen der Welt und zahlreiche Stars wie einst Grace Kelly, Jackie Kennedy und Marlene Dietrich und jetzt Julianne Moore, Charlize Theron, Jennifer Lawrence, Rihanna oder Nicole Kidman sich gerne von Dior einkleiden lassen, trägt dazu sicher auch bei. Ab September gibt es ein neues Männerparfüm, für das Johnny Depp Werbung machen wird.

Der einzige ernst zu nehmender Konkurrent um den Platz eins in der Haute-Couture-Rangliste ist derzeit ein Modehaus in Paris, das ebenfalls auf eine geniale Tradition zurückblicken kann: Chanel. Spannend. Denn das Match Dior gegen Chanel – sprich Karl Lagerfeld gegen Raf Simons – ist für Modeexperten so amüsant wie immer wieder überraschend. Wer macht die tollere Show, am noch ausgefalleneren Ort? Wer macht die grandiosere Kollektion – und wer hat die wichtigeren Gäste in der ersten Reihe?

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