Stangassinger über Olympia-Gold 1994: "Man wird förmlich zerrissen"
Vor 30 Jahren rettete in Lillehammer Thomas Stangassinger mit Slalom-Gold die Ehre der Skination. Ein Gespräch über Druck, seinen Langzeit-Rivalen Tomba und 2-Meter-Skier.
27.02.24, 05:00
Von Christian Mayr
Die Olympischen Winterspiele 1994 im norwegischen Lillehammer gelten als Inbegriff für maßvolle und freundliche Spiele. Die österreichischen Skifahrer hatten aber bis zum Schlusstag wenig zu lachen – erst Thomas Stangassinger erlöste mit seinem Slalom-Triumph die stolze Ski-Nation.
Von 1,84 Sekunden Vorsprung auf Alberto Tomba rettete der Salzburger gerade einmal 15 Hundertstel ins Ziel. 30 Jahre später erinnert sich der 58-Jährige an seinen größten Erfolg.
KURIER:Herr Stangassinger, Sie standen damals als Letzter im Starthaus, Österreich hatte erst zwei Alpin-Medaillen und kein Gold. Da rutscht vor Ihnen Lokalmatador Aamodt beim zweiten Tor weg. Was ist da in Ihrem Kopf vorgegangen?
Thomas Stangassinger: Das weiß ich eigentlich noch sehr gut. Es war ja nicht nur der Aamodt, unmittelbar vor mir sind insgesamt drei Läufer beim zweiten, dritten Tor ausgeschieden. Dadurch ist es oben für mich hektisch geworden, weil sich das Startintervall plötzlich verkürzt hat und sich der ganze Ablauf änderte. Und ich habe nicht gewusst, was genau los ist – bis mir 15 Sekunden vor dem Start ein Betreuer gesagt hat, dass die ersten Tore extrem blöd sind. Da läuft es mir heute noch ganz kalt den Rücken hinunter. Ich war dann oben auch knapp vor dem Ausscheiden – ein Schock, aber dann ist es doch zu meinen Gunsten ausgegangen.
Marcel Hirscher hat einmal sinngemäß gesagt, bei der Fahrt zu Slalom-Gold in Schladming ist er vom Kind zum Manne geworden. Trifft es das? Eine ultimative Prüfung.
Damit kann ich wenig anfangen, weil ich nie Olympische Spiele und Weltmeisterschaften über andere Rennen gestellt habe. Ich wollte mir nicht zusätzlich Erwartungsdruck machen. Außerdem war ich als Kitzbühel-Sieger ohnehin schon Mitfavorit auf den Titel, aber der große Dominator damals war natürlich Alberto Tomba.
Thomas Stangassinger (* 15. September1965) lebt in Bad Dürrnberg bei Hallein. In den 1990er-Jahren war er einer der weltbesten Slalomläufer. Bei Weltmeisterschaften holte er Silber (1991) und Bronze (1993), ehe er sich 1994 in Lillehammer mit Olympia-Gold krönte. In jenem Jahr wurde er auch Österreichs Sportler des Jahres. Im Winter 1998/99 gewann er die kleine Kristallkugel im Torlauf, insgesamt fuhr er zehn Weltcupsiege ein. Im Frühjahr 2000 erfolgte sein Rücktritt.
Tomba wurde letztlich Zweiter. Nach einem Traumlauf im ersten Durchgang war es im Finale dann von Ihnen eine taktisch kluge Fahrt zu Olympia-Gold. Heutzutage heißt es, so etwas wäre unmöglich, weil immer Vollgas nötig sei.
Das war damals eigentlich genauso. Tomba war nach dem ersten Lauf sehr weit hinten, hatte dann nichts mehr zu verlieren und nutzte die Bedingungen optimal aus. Am Ende ist es bei mir sehr, sehr knapp geworden, weil ich bei jedem Tor ein paar Hundertstel verloren habe – aber zum Glück ist es sich ausgegangen.
Was ist 30 Jahre später bei Ihnen noch präsent, welche Bilder tauchen da auf?
Ich muss ehrlich sagen, ich denke im normalen Alltag an den Rennsport null zurück. Seit meinem Rücktritt bin ich auch kein einziges Mal mehr auf dem Rennski gestanden und habe an schnelles Skifahren gedacht. Auch nie davon geträumt! Es war eine schöne Zeit, aber mit dem Ende war sie beendet.
Was nimmt man davon für das spätere Leben mit, wenn es etwa gilt, schwierige Entscheidungen zu treffen?
Natürlich prägt dich diese Zeit für das spätere Leben – das beginnt aber schon im Kinder- und Jugendalter. An eine Sache erinnere ich mich ganz genau: Wir müssen so 15 gewesen sein, da sagt ein Freund zu mir: „Dein Leben möchte ich nicht haben.“ Weil es halt sehr früh viele Einschränkungen gegeben hat – beim Fortgehen, beim Alkohol, bei der Ernährung.
Video: Die entscheidenden Momente im Olympia-Slalom 1994
Ihr verhaltener Siegesjubel bei Olympia war für einen solchen Triumph eher untypisch. War das einfach Ihr Naturell oder die übergroße Erleichterung, den Vorsprung ins Ziel gebracht zu haben?
Ich habe generell nie so überschwänglich jubeln können. Und ich habe direkt lachen müssen, wie ich jetzt gehört habe, dass sich Cyprien Sarrazin in der Nacht vor seinem zweiten Kitzbühel-Sieg schon den Jubel für den nächsten Tag überlegt hat. In meinem Fall konnte ich bei einem solch großen Vorsprung eigentlich nur noch verlieren, das war schon eine Last. Und gerade im Slalom besteht der größte Druck, weil bei jedem Tor etwas passieren kann.
Spielten auch andere Faktoren mit? Einen Monat zuvor hat der Tod von Ulli Maier ganz Österreich in Schock versetzt.
Ja, es war leider eine ganz verrückte Zeit. Begonnen hat es mit Rudi Nierlich, der viele Jahre mein bester Freund und Zimmerkollege war – 1991 tödlich verunglückt. Dann kurz vor Olympia 1994 der tragische Tod von Maier. Da ist es im Team drunter und drüber gegangen.
Dass ich mich weder bei Erfolgen noch bei Niederlagen großartig emotional reingesteigert habe. So habe ich auch schlechtere Zeiten immer gut abhaken können. Und dass ich am Materialsektor ein ziemlicher Tüftler war. Vor allem in meinen letzten Jahren habe ich dadurch sehr viele Stockerlplätze eingefahren und bin selten ausgefallen – und zwar bei allen Pistenverhältnissen.
In Österreich nahm der Rummel zu Ihrer Zeit aber auch bedenkliche Ausmaße an: Ich erinnere mich an den Kitzbühel-Slalom 1999, als Sie – den Sieg vor Augen – nur Vierter wurden. Das Publikum pfiff, und Sie griffen sich irritiert an den Kopf …
An das kann ich mich jetzt gar nicht mehr erinnern! Aber natürlich, das war die erfolgreiche Zeit und da steigt natürlich beim Publikum die Erwartungshaltung ins Unermessliche. Zu meinen zwei Kitzbühel-Siegen muss ich schon sagen, dass sie wunderschön waren, aber mit dem ganzen Trubel konnte man das gar nicht so richtig genießen – man wird dort förmlich zerrissen. Auch emotional.
Das waren die Anfänge der goldenen Jahre im ÖSV.Hätten Sie jemals gedacht, dass man 20 Jahre später über viele Ski-Krisen reden und die Talente mit der Lupe suchen muss?
Das hat sich schon mit Marcel Hirscher und Anna Veith abgezeichnet. Die haben die mannschaftliche Schwäche über viele Jahre überdeckt. Und auch im Europacup hat sich längst angedeutet, dass da wenig nachkommt.
Sie haben dann die Kurzski-Revolution nicht mehr mitgemacht. Holen Sie Ihren langen Olympia-Skier noch ab und zu aus dem Keller zum Nostalgiefahren?
Es juckt mich schon lange, sie wieder auszuprobieren. Er ist leider auch etwas rostig. Und es macht halt keinen Spaß, mit einem 2,05-Meter-Ski, der nicht tailliert ist, zu fahren. Da muss auch ich aufpassen, dass ich nicht auf die Nase falle. Vielleicht wäre jetzt zum 30er-Jubiläum ein guter Zeitpunkt, ihn auszupacken.
Was war für Sie der emotionalste Ski-Moment seit dem Olympiasieg? Die Auswahl ist ja ziemlich groß.
Schwierig. Live dabei war ich seither nur bei drei Weltcuprennen. Was mich jetzt gerade irrsinnig freut, sind die Erfolge von Manuel Feller. Er ist schon lange dabei und hat viel durchgemacht – wie oft hat es bei ihm nicht geheißen: Wann hörst du endlich auf? Ich würde mich total freuen, wenn er heuer die Slalomkugel gewinnen könnte.
Was glauben Sie, wie sieht der Ski-Weltcup in 30 Jahren aus?
Ich bin überzeugt, dass es am vorhandenen Schnee und am Winter in 30 Jahren nicht scheitern wird. Die Klassiker und die Faszination am Skisport wird es weiter geben, vielleicht aber nur noch in den Alpen. Ich stelle mir aber oft die Frage, ob es den Rennsport für das Erlebnis Wintersport und den Tourismus künftig braucht. Ich selber gehe an einem schönen Wintertag lieber mit den Tourenski auf den Berg als vor dem Fernseher zu sitzen und Rennen zu schauen.
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