Schlierenzauers Punktlandung in den Mittelpunkt
Stefan Kraft muss einem fast ein wenig leid tun. Der erste Tournee-Tag in Oberstdorf steht ja eigentlich traditionell ganz im Zeichen des Titelverteidigers, der bei der großen Eröffnungspressekonferenz der internationalen V-Stil-Fachpresse Rede und Antwort stehen darf. Doch an diesem Sonntag dürfte der amtierende Champion wohl genauso links liegen gelassen werden, wie der aktuelle Weltcupleader Peter Prevc, der ebenfalls immer mit aufs Podium darf.
Wenn sich der Überflieger der Weltcup-Geschichte wieder einmal am Schanzentisch blicken lässt und gemeinsam mit seinen österreichischen Springerkollegen vor dem Tourneestart offiziell zur Audienz bittet, dann zieht er zwangsläufig das ganze Interesse auf sich.
Zumindest in dieser Hinsicht hat sich im Leben von Gregor Schlierenzauer nichts geändert. Auf ihn sind Kameras und Scheinwerfer gerichtet, er steht im Mittelpunkt und stiehlt fast immer allen die Show. Genau so spielt sich das ab, seit der Stubaier 2006 im Alter von 16 Jahren zum ersten seiner 53 Weltcupsiege geflogen war. Es vergeht kein Tag, an dem bei seinem persönlichem Pressebetreuer nicht zumindest zwei Interview-Anfragen eingehen. Und durch die Ereignisse der vergangenen Wochen ist das Interesse an ihm bestimmt nicht kleiner geworden.
Viele Fragezeichen
Es gibt ja auch tatsächlich viele brennende Fragen rund um die Person Gregor Schlierenzauer: Was ist eigentlich los mit ihm? Wird er je wieder ganz der Alte? Und hat er überhaupt noch Lust am Skispringen?
In den vergangenen Tagen und Wochen war sehr viel über das Seelenwohl und die Form des 25-Jährigen gerätselt worden. Von einer Sinnkrise und gar einem Burn-out war da zu lesen, nur weil sich Schlierenzauer eine Auszeit genommen hatte. Einige Tage fernab von Schanzen und Fitnessgeräten sollten dem Tiroler auf die Sprünge helfen und ihm die verloren gegangene Freude und Leichtigkeit zurückbringen. "Ich habe mich bei allem, was ich gemacht habe, wieder wohler gefühlt",berichtet Schlierenzauer. "Aktuell bin ich aber kein Siegspringer."
Das ist auch das große Dilemma, in dem Schlierenzauer steckt. Der Seriensieger von einst, dem lange Zeit alles immer leicht von der Hand gegangen war und dem die Triumphe und Titel jahrelang nur so zugeflogen waren, wurde auf ein Normalmaß gestutzt. Und plötzlich springen ihm Athleten um die Ohren, die er zu seiner Glanzzeit mit links überflügelt hat.
"Die großen Erfolge, die Gregor schon feiern durfte, sind für ihn Fluch und Segen zugleich", sagt Christian Uhl. Der Vorarlberger Sportpsychologe, der einst schon Thomas Morgenstern auf seinen Höhenflügen begleitet hat, arbeitet seit der Vorsaison mit Schlierenzauer zusammen. "Man kann sich das so vorstellen: Wer bisher immer in einer schönen Villa mit Meerblick gewohnt hat, und dann plötzlich in ein viel kleineres Haus übersiedelt, der wird das alte Leben auch nicht aus dem Kopf kriegen. Aber genau darum geht es jetzt bei Gregor: Die Kunst liegt darin, das Alte loszulassen und sich dem Neuen zu stellen. "
Viele Aufgaben
Anton Innauer kann sich gut in Schlierenzauer hinein versetzen. Der Vorarlberger war selbst einmal ein Jungstar, der in frühen Jahren schon alles erreicht hatte und irgendwann ohne Ziele dastand. Innauer glaubt, dass Schlierenzauer auch damit zu kämpfen hat, dass er jetzt nur noch als Ottonormal-Skispringer wahrgenommen wird. "Früher hat man ihn gefürchtet, inzwischen haben alle gesehen, dass er ein schlagbarer Gegner ist. Keiner erstarrt mehr in Ehrfurcht vor ihm."
Und Gregor Schlierenzauer? Der wirkt in seiner ersten richtigen Formkrise erstaunlich gelassen und geerdet. Er sieht diese schwierige Situation in erster Linie als Herausforderung. "Ich möchte mich auch als Person weiterentwickeln", sagt er.
Sportpsychologe Christian Uhl streut seinem Schützling jedenfalls Rosen. "So blöd es im Moment vielleicht klingen mag: Für Gregors Persönlichkeitsentwicklung ist diese Zeit wichtig. Das ist auch eine große Chance."
Außerdem könne einer wie er das Skispringen nicht verlernen. "Ihm fehlt ganz, ganz wenig."
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