Stellen Sie sich einmal vor, es wird ein neues Reglement eingeführt und kaum einer hält sich dran. Im Skiweltcup passiert gerade genau das. Mit dieser Saison ist in den Disziplinen Abfahrt und Super-G das Tragen eines Airbags verpflichtend, der Weltverband FIS feierte die Maßnahme als Errungenschaft für die Sicherheit des Skisports.
In Wahrheit ist die Airbag-Pflicht freilich nichts als heiße Luft. Denn wenn nun am Freitag in Beaver Creek die Herren ihre erste Abfahrt bestreiten, dann pfeifen etliche Läufer auf die Rennanzüge mit der Zusatzweste, die bei Stürzen den Rücken- und Brustbereich schützen soll.
Vincent Kriechmayr, der Doppelweltmeister von 2021, fährt oben ohne, auch der Italiener Dominik Paris, Sieger von 22 Speedrennen, lässt den Airbag weg. Allein im ÖSV-Speedteam widersetzen sich 16 Abfahrerinnen und Abfahrer der Tragepflicht. Was ist denn das, bitteschön, für ein Reglement?
Hintertürl
„Wäre der Airbag wirklich verpflichtend, dann würden wir uns auch daran halten“, stellt ÖSV-Sportdirektor Mario Stecher klar. Aber die FIS hat bei der Einführung dieser neuen Norm ein „Hintertürl“ offengelassen, wie es Alpinchef Herbert Mandl formuliert: „Die Athleten dürfen bei ihrem Verband um eine Ausnahmegenehmigung ansuchen, den Airbag nicht tragen zu müssen. Und das haben wir als ÖSV auch gewährt.“ Insgesamt 38 Ansuchen für eine Ausnahmegenehmigung wurden weltweit bewilligt.
Aber warum weigern sich so viele Läufer, den Airbag zu tragen? Warum herrscht im Weltcup rund um dieses Thema so dicke Luft?
Vincent Kriechmayr etwa fühlt sich durch den Airbag in seinem Anzug eingezwängt und unwohl. „Mich stört die Passform, ich bin ein Athlet, der sich im Rennanzug rühren will und lass’ mich nur ungern einschränken“, sagt der Routinier. „Ich bin da halt ein Gewohnheitstier.“
Schutzfaktor
Kriechmayr hat freilich auch schon miterlebt, wie der Airbag einen Kollegen vor einer Querschnittlähmung bewahrt hat. Als Matthias Mayer 2015 in der Abfahrt von Gröden schwer zu Sturz kam, wirkten beim harten Aufprall auf die Piste laut Untersuchungen Kräfte von 13 G auf den Kärntner ein. Der dreifache Olympiasieger kam damals mit Brustwirbelbrüchen noch vergleichsweise glimpflich davon. „Zum Glück habe ich den Airbag angehabt. Der ist in der Luft aufgegangen. Das war in dem Fall sicherlich eine gute Lösung“, sagte Matthias Mayer.
Auch der beste Skifahrer der Gegenwart schwört auf den Airbag: Marco Odermatt fuhr seine Erfolge alle im Airbag-Rennanzug ein, den dreifachen Gesamtweltcupsieger aus der Schweiz scheint diese Zusatzweste auf der Piste nicht zu behindern.
Fehlauslösung
Vincent Kriechmayr ist alles andere als ein militanter Airbag-Gegner, er begrüßt Innovationen, die den Skisport sicherer machen. Der Oberösterreicher hat jedoch, wie viele seiner Rennfahrerkollegen, immer noch Bedenken, dass das Teil aus heiterem Himmel in die Luft gehen könnte. „Es gibt ab und an Fehlauslösungen“, erklärt Kriechmayr und berichtet von einem skurrilen Fall, der sich im letzten Winter im ÖSV-Team zugetragen hat: „Stefan Babinsky hat sich gebückt, um seine Skischuhschnallen zuzumachen – und dann ist der Airbag plötzlich aufgegangen.“
Die Sorge vor einer Fehlauslösung ist bei Vincent Kriechmayr jedenfalls größer als die Angst vor einer schweren Verletzung. Wie meint er doch gleich: „Wenn das am Start in Kitzbühel passiert, dann haue ich den Airbag den Berg hinunter.“
Kommentare