Julian Hadschieff: „Ich wollte nicht jeden Tag Schmerzen haben“

Der Chef: Julian Hadschieff in seinem Büro in der Zentrale von Humanocare im 13. Bezirk
Der 64-Jährige war einst Eisschnellläufer. Heute ist er fast blind und leitet einen Betrieb mit 1.000 Mitarbeitern. Stets habe er die Bereitschaft gehabt, die „Extrameile“ zu gehen.

Der KURIER-Fotograf hat einen dankbaren Job. Rasch sind die Bilder von Julian Hadschieff auf der Speicherkarte. „Man braucht nicht traurig schauen, nur wenn man nichts sieht“, sagt der 64-Jährige in der Zentrale von Humanocare im 13. Bezirk in Wien.

KURIER: Herr Hadschieff, Sie haben eine eindrucksvolle Karriere hingelegt, mit einem sehr eingeschränkten Sehvermögen. Wie war das möglich?

Julian Hadschieff: Ich bin heute praktisch blind und verfüge nur mehr über etwas weniger als ein Prozent Sehvermögen. Sportler und Manager verbindet, dass sie an ein großes Ziel glauben und konsequent daran arbeiten, dieses Ziel zu erreichen. Es geht dabei um Leistungsbereitschaft, Selbstmotivation, Durchhaltevermögen und mit Freude dabei zu sein. Wichtig ist auch ein gutes Umfeld. Ich hatte meine Familie, die mich immer wie einen Menschen ohne Behinderung behandelt hat. Manchmal war es hart, so gefordert zu werden, aber es war eine gute Schule.

Fordern und fördern. Ist das besonders wichtig für Menschen mit Behinderung?

Was ich den Eltern von Kindern mit Behinderung sagen möchte, ist, dass es gut ist, wenn sie ihre Kinder fördern. Stellt sie nicht unter einen Glassturz! Die Menschen müssen spüren, wie der Wind draußen im Alltag weht.

Wie erhalten Sie bei einem immer schlechter werdenden Sehvermögen Ihren positiven Zugang zum Leben?

Mein Motto lautet: „Ich schaffe das!“ Freude am Leben und Zuversicht ist eine wichtige Voraussetzung. Ich bin mit voller Sehleistung auf die Welt gekommen. Im siebenten Lebensjahr, in der zweiten Klasse, hat es begonnen, dass ich schlechter sehe. Ich bin von der letzten Bank in der Volksschulklasse ganz nach vorne gekommen. Im Alter von 13 oder 14 Jahren konnte ich nur noch aus geringster Entfernung, danach nur mehr mit der Lupe lesen. Ich musste dann die Extrameile gehen. Es gibt im Sport und im Leben Niederlagen. Wesentlich ist, nach Niederlagen wieder aufzustehen.

Sie haben trotz Ihres Handicaps immer Sport betrieben?

Die Beeinträchtigung wurde Teil meines Lebens. Wir haben in unserer Familie immer schon Sport gemacht, zuerst Leichtathletik, dann Eisschnelllaufen. Mit 18 Jahren bin ich ins Eisschnelllauf-Nationalteam gekommen. Damals habe ich versucht, meine Behinderung zu verbergen. Ich bin Radrennen und auch Motorrad ohne Führerschein gefahren – auch wenn das nicht so super schlau war. Im Kino habe ich mich immer in die letzte Reihe gesetzt, mit der Konsequenz, dass alle Filme für mich wie der Blick in eine Waschmaschine abgelaufen sind. Zum Glück waren erste Freundinnen in der letzten Reihe dabei ...

Sie sind mit der Behinderung nicht offen umgegangen?

Ich habe am Anfang so getan, als gäbe es sie nicht. Erst mit 20 habe ich dazu stehen können. Es ist mir klar geworden, dass ich mich anders organisieren muss, wenn ich ein Studium machen will. Ich konnte nicht alleine Hunderte von Seiten bewältigen.

Dass Sie mit dem Eisschnelllauf aufgehört haben, hatte in erster Linie mit den Augen zu tun?

Ich hatte schon einen Nachteil, habe es aber trotzdem bis zum Staatsamateur mit Sportstipendium geschafft und bin sogar einen Rekord über 10.000 Meter gelaufen.

Wären Sie so gut wie Ihr Bruder Michael geworden, der 1988 zwei Olympia-Medaillen gewonnen hat?

Nein – und das hat gar nichts mit dem Sehen zu tun. Ich habe aufgehört, weil ich nicht jeden Tag Schmerzen haben wollte beim Trainieren. Kraft-Ausdauersport ist extrem hart. Wenn man zwei Mal 150 Kniebeugen mit 60 Kilo macht, da brennt es dann ordentlich in den Muskeln. Ich habe nicht die Fähigkeiten wie der Michi gehabt, der konnte über den Schmerzpunkt besser drüber gehen.

Für die Paralympics ist es sich dann ausgegangen ...

Ja, 2006 war ich als Skifahrer dabei. Der Behindertensport hat sich großartig entwickelt. Ich habe damals, als ich Weltcup und Paralympics gefahren bin, täglich trainiert. Das war gar nicht so einfach für jemanden, der ein Unternehmen mit damals 2.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einer Viertelmilliarde Umsatz führt. Das erfordert sehr viel Disziplin und Training – entweder sehr früh oder ganz spät nach dem Büro. Aber es hat sich gelohnt. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, bei den Paralympics in Turin ins volle Stadion einzumarschieren.

Der Sport hat Sie also nie losgelassen?

Als ich von Tirol nach Wien gekommen bin, habe ich den Sport eine Zeit lang vernachlässigt. Mir war wichtig, ein Unternehmen aufzubauen. Für den Körper war das nicht super. Zuvor hatte ich 78 Kilo Kampfgewicht, doch dann ging es rasch in Richtung 90 Kilo, die sich aber an den falschen Stellen angesammelt haben. Irgendwann habe ich mir gesagt: Schluss mit lustig. Seit dieser Zeit gehört das Training wieder zum Alltag.

Welche Rolle spielt der Sport heute noch?

Vier oder fünf Mal die Woche setze ich mich in der Früh aufs Radl und mache rund ein bis eineinhalb Stunden Krafttraining mit Gewichten. Sport war mir immer wichtig, um den Kopf freizubekommen. Für mich macht es ob meiner Behinderung doppelt Sinn, mich fit zu halten. Ich war beispielsweise kürzlich beruflich in Miami. Auf dem Gehsteig bin ich plötzlich ins Leere getreten und hingefallen. Ich habe mir aber nur den Anzug aufgerissen – meine Körperspannung hat noch gereicht, um mich abzustützen und nicht voll aufs Gesicht zu fallen.

Was würden Sie als Sportminister an Ihrem ersten Tag beschließen?

Ich möchte die Sportpolitik loben – da wurde in den vergangenen Jahren wirklich viel getan. Ich wünsche mir aber, dass der Inklusion von Menschen mit Behinderung noch mehr Raum gegeben wird. Was ganz klar ist: Bei der Sportinfrastruktur haben wir massiven Nachholbedarf. Das müssen nicht nur große Stadien oder Hallen sein – jeder Käfig mit Basketballkörben hilft. Außerdem sollten die Turnsäle auch in den Ferien offen sein, nicht nur dann, wenn die Schulerhalter das wollen. Das sind Schwächen im System, die es immer schwerer machen, Sportler auszubilden, wenn die Konkurrenz die immer verfügbare Spielkonsole ist.

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