Vor seiner Jungfernfahrt auf der Saslong in Gröden hat Johannes Strolz etwas getan, das man als Abfahrer tunlichst vermeiden sollte: Er hat das Kopfkino eingeschaltet und sich vor Augen geführt, was alles passieren kann. „Mir ist der eine oder andere Sturz in den Sinn gekommen, den ich dort im Fernsehen gesehen habe“, erzählt der Vorarlberger.
Wer kann es dem Doppelolympiasieger aber auch verdenken: Strolz war bisher ein ausgewiesener Slalomspezialist, Gröden ist heute seine erste Weltcupabfahrt (11.45 Uhr/live ORF 1), und vor den berühmten Kamelbuckeln sind schon andere in die Knie gegangen. „Ich habe vor der Mausefalle auf der Streif weniger Respekt als vor den Kamelbuckeln“, gestand einst Vincent Kriechmayr. „Mit der Geschwindigkeit, mit der Höhe, mit der Weite.“
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Mit Gröden beginnt heute die wichtigste Zeit für die Abfahrer. In den nächsten vier Wochen warten nach Gröden noch die Klassiker in Bormio, Wengen und Kitzbühel. Jedes einzelne Rennen ein Spektakel für sich, jede Strecke voller Tücken und Schlüsselstellen mit Kultcharakter.
Daniel Hemetsberger, neben Kriechmayr der größte ÖSV-Hoffnungsträger in den schnellen Disziplinen, ist für den KURIER alle vier Klassiker in Gedanken abgefahren und erklärt die schwierigsten Passagen aus seiner subjektiven Wahrnehmung. „Jede Abfahrt hat ihre Herausforderungen.“
Vier Kreuzbandrisse sind dafür verantwortlich, dass die Karriere von Daniel Hemetsberger erst spät Fahrt aufgenommen hat und sein Erfahrungsschatz deutlich geringer ist als bei anderen Abfahrern in seinem Alter. Gröden flößt dem 32-Jährigen aus Oberösterreich noch heute großen Respekt ein. „Für mich haben die Kamelbuckel einen Schrecken“, sagt er. Vor allem die Anfahrt zu den Riesenwellen lässt traditionell viel Zeit für Gedankenspiele. „Du denkst dir: Jetzt kommt’s, jetzt kommt’s, nur nicht mit dem Oberkörper nach vorne oder hinten kippen. Hoch stehen und eine schöne Mittellage. Sonst bist du dort geliefert.“ Um es mit den Worten von Kriechmayr zu sagen: „Wenn dir bei den Kamelbuckeln etwas passiert, dann ist die Saison in den meisten Fällen gelaufen.“
In Kitzbühel lesen sie das natürlich nicht gerne, aber die Stelvio in Bormio gilt für viele Läufer als schwierigste, weil kräfteraubendste Abfahrt im Weltcup. Selbst die größten Muskelprotze bekommen auf der stets eisigen und unruhigen Strecke spätestens im San-Pietro-Schuss weiche Knie. „Man muss nur schauen, wie hoch da die Hintern der Läufer sind. Da kann keiner mehr richtig in Position fahren, weil alle müde sind. Ich reck’ im untersten Teil immer den Arsch in die Höhe“, erzählt Hemetsberger.
Ein Sprung zwischen zwei Felsen, ein enger Tunnel durch die Bahntrasse – müsste heute eine Abfahrtspiste entworfen werden, sie würde niemals aussehen wie die altehrwürdige Lauberhorn-Abfahrt mit ihren Kultpassagen. Das Brüggli-S, oder Kernen-S, wie es inzwischen heißt, die verrückteste Schikane im Weltcup, ist für Hemetsberger alle Jahre wieder eine Herausforderung für Geist und Körper. „Es ist so eng, dass du nur Netze und Planen siehst, aber keinen Ausgang“, sagt der 32-Jährige, „da brauchst du wirklich einige Versuche, bis du da durchkommst. Mich hat es am Anfang dort richtig gefuchst.“
Daniel Hemetsberger hat jetzt zwar keine tiefe Abneigung gegen den Steilhang, aber dicke Freunde sind die beiden auch noch nicht geworden. „Die Steilhangausfahrt ist mein persönlicher Gegner“, erklärt der Olympia-Teilnehmer von 2022. „Zu Beginn meiner Karriere ist es 4:0 für die Steilhangausfahrt gestanden.“
Aber damit steht Hemetsberger nicht alleine da. Auch Vincent Kriechmayr hat seine denkwürdigen Erlebnisse mit der Streif. „Ich habe einmal in meiner Karriere den Respekt vor einer Abfahrt verloren. 2019 haben alle gesagt, die Streif ist nicht so schlimm. Und dann hätte es mich dort fast zerbröselt.“
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