Für Österreicher, die seit dem vergangenen Spätherbst kaum noch unter Leute gekommen sind, wirkt Cortina wie ein Ort aus einer anderen Zeit. Wann hat man das letzte Mal so viele Menschen auf einem Haufen gesehen? Wann offene Restaurants und unversperrte Ladengeschäfte erlebt? Wann kam das letzte Mal so etwas wie ein Gefühl von Normalität auf?
Aber welche Normalität eigentlich?
Als Ramona Siebenhofer das erste Mal durch Cortina spazierte und ihr in dem 5.600-Einwohner-Städtchen so vielen Leuten über den Weg liefen, war die ÖSV-Läuferin fast mehr entsetzt als begeistert. „Das ist ein kleiner Kulturschock“, gab die Steirerin zu. Ihre Teamkollegin Franziska Gritsch fand es zwar „schön, dass endlich wieder was los ist. Aber es ist zugleich auch fast ein wenig befremdlich“.
Nicht viel anders ergeht es einem beim ersten Abstecher in eine Café-Bar seit Anfang November. Nach unzähligen Cappuccini, die man im Stammlokal daheim im Freien und aus einem Pappbecher trinken musste, ist es natürlich eine echte Wohltat, wieder einmal einen Kaffee in einer Tasse serviert zu bekommen und dabei nicht frieren zu müssen.
Trotzdem beschleicht einen unverzüglich ein seltsames Gefühl. Man ruft sich spätestens beim zweiten Schluck reflexartig noch einmal all die Corona-Regeln in Erinnerung, die der Bevölkerung in den vergangenen Monaten eingetrichtert wurden – und blickt dabei argwöhnisch auf das gesellige Treiben in der Bar. Ist der Nachbartisch mit den zwei älteren Damen wirklich nur einen Babyelefanten entfernt? Warum hat die Kellnerin nur so einen Fetzen Stoff vor ihrem Gesicht und trägt keine FFP2-Maske?
Und wieso hustet der Typ da drüben nicht in die Armbeuge, wie es der Gesundheitsminister vorgezeigt hat? Der wird doch hoffentlich nicht ...
Eigentlich wollte man den ersten echten Kaffee seit Monaten ja in vollen Zügen genießen. Doch leider ist das Unbehagen doch größer als das Geschmackserlebnis. Und man merkt in diesem ungewohnten Moment der frisch gewonnenen Freiheit erst so richtig, was das Coronavirus und die vielen Lockdowns mit uns angestellt haben.
Die Kellnerin scheint irgendwie mitbekommen zu haben, dass sich der fremde Gast aus Österreich nicht ganz wohl in seiner Haut fühlt und unruhig auf seinem Stuhl hin und her wetzt.
Sie schenkt ein Glas Wein auf Haus aus, weil heute die Ski-Weltmeisterschaft startet und weil sie froh ist, dass sich in Cortina endlich wieder etwas bewegt. „Wir hatten seit Weihnachten praktisch keine Gäste“, sagt sie.
Zum Wein reicht sie, wie in Italien üblich, eine kleine Schüssel mit Chips und Erdnüssen. Früher hätte man wahrscheinlich völlig unbedacht und ungeniert hingelangt und den Mund nicht voll genug kriegen können. Jetzt lässt man die Finger davon. Auch wenn der Gusto noch so groß sein mag.
Sicher ist sicher.
Kommentare