Ex-Skisprung-Star Schlierenzauer: "Mir geht das Hungern nicht ab"
Mit 53 Siegen ist Gregor Schlierenzauer (33) noch immer der Rekordspringer im Weltcup. Fast auf den Tag genau vor zwei Jahren ging der Tiroler beim Continental Cup in Brotterode (GER) das letzte Mal über die Sprungschanze.
KURIER: Wie viel Skispringer steckt noch in Ihnen?
Gregor Schlierenzauer: Gute Frage. Meinen Sie das jetzt eher körperlich oder mental?
Ganz grundsätzlich. Denken Sie noch wie ein Skispringer?
Natürlich kann ich beim Zuschauen nachvollziehen, was in diesem Moment gerade in einem Springer vorgeht. Skispringen war für mich immer mit Emotionen verbunden. Ich habe das 15 Jahre lang professionell betrieben und intensiv gespürt und wahrgenommen. Ich weiß immer noch, wie es sich anfühlt.
Dann verraten Sie’s: Wie fühlt sich Skispringen an?
Das kann man einem Außenstehenden nur sehr schwer beschreiben. Ich würde es vielleicht so formulieren: Jeder, der einen Sport ausübt, hat eine gewisse Idee, wie zum Beispiel ein perfekter Tennisschlag zu sein hat. Wenn dir das gelingt, dann hast du besondere Emotionen. Ich hatte das Glück, dass sich das Skispringen bei mir die meiste Zeit sehr gut angefühlt hat.
Gab es im Laufe Ihrer Karriere so etwas wie den perfekten Sprung?
Natürlich. Aber „perfekter Sprung“ ist relativ. Im Skispringen hat sich das Reglement über die Jahre dermaßen oft verändert, dass man sich jeden Winter anpassen musste. Und das hatte natürlich auch Auswirkungen auf die Gefühlswelt und das persönliche Empfinden. Aber für mich hat es immer wieder eine Benchmark gegeben, an der ich mich orientiert habe.
Was war so eine Benchmark?
Das war der Probedurchgang 2009 in Sapporo.
Ein Sprung in einem Probedurchgang war Ihr Maßstab?
Das war wirklich so ein Sprung, den ich in jeder Phase extrem gespürt habe. So weit ich mich erinnern kann, waren es 134 Meter, aber die Weite war in diesem Fall völlig nebensächlich. Dieser Sprung ist meiner Vorstellung und meiner Vision vom Skispringen am nächsten gekommen. Zumindest zu jener Zeit.
Und wie ist das heute: Träumen Sie noch vom Skispringen?
Ja. Ich träume immer wieder davon, aber ich komme dann interessanterweise nie wirklich bis zum Sprung.
Das müssen Sie jetzt erklären.
Es ist im Traum alles wirklich sehr realitätsgetreu. Aber kurz bevor es richtig losgeht, passiert immer etwas. Da gibt es immer einen Zwischenfall. Materialgebrechen, Absagen, Startnummer vergessen. Das ist ein Phänomen, das offenbar mehrere Skispringer erleben. Toni Innauer hat mir erzählt, dass es ihm genau gleich geht.
Wie weit haben Sie es denn im Traum geschafft?
Ich bin bereits am Balken gesessen, aber dann war irgendwas mit der Bindung. Ich musste wieder raus und dann war der Traum vorbei.
Karriere: Gregor Schlierenzauer (*7. 1. 1990) ist der Neffe von Rodel-Legende Markus Prock. Bereits mit 16 Jahren gelang dem Stubaier 2006 in Lillehammer sein erster Weltcupsieg.
Erfolge: Schlierenzauer gewann je zweimal den Gesamtweltcup und die Tournee. 2011 wurde er Weltmeister auf der Großschanze. Bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen holte er 16 Medaillen, sieben davon in Gold.
53 Weltcupsiege feierte Gregor Schlierenzauer zwischen 2006 und 2014. Von den aktiven Athleten kommt ihm der Pole Kamil Stoch mit 39 Erfolgen am nächsten.
Der Geschäftsmann: Der 33-Jährige gründete mit einem Geschäftsfreund vor Kurzem das Unternehmen ImpulseLiving. "Wir bieten Lebens- und Wohnkonzepte an, machen auch Coachings und schauen auf das maximale Wohngefühl der Menschen. Die Themen Architektur und Design haben mich schon immer interessiert"
Hat sich das Skispringen für Sie in früheren Jahren besser angefühlt als am Ende Ihrer Karriere?
Es hat sich auf jeden Fall anders angefühlt. Die Materialausrichtungen hatten in der Hinsicht einen großen Einfluss. Deshalb war es auch die große Kunst, jedes Jahr aufs Neue ein Set-up und eine Technik zu finden, die funktioniert.
Ist das nicht frustrierend, wenn man sich nach jedem Winter neu erfinden muss?
Das war und ist grundsätzlich die größte Herausforderung im Skispringen. Abgesehen davon, dass der Sport eh schon extrem komplex und koordinativ ist. Im Rückblick hatte das natürlich auch etwas Positives, weil ich mich jedes Jahr neu aufstellen habe müssen, um erfolgreich zu sein. Aber das kostet halt extrem viel Kraft und Energie.
Sind ihre 53 Weltcupsiege daher womöglich mehr wert als Gold bei einem Tagesevent?
Für mich persönlich ja. Für mich war immer wichtig, zu gewinnen. Es war teilweise sehr herausfordernd, jedes Jahr etwas zu finden und sich anzupassen. Zum Schluss ist es mir eh nicht mehr gelungen.
Hat Sie seit dem Rücktritt ein Comeback nie gereizt? Sie sind erst 33 und damit drei Jahre jünger als Weltmeister Piotr Zyla.
Ich habe meine Sprungski seit zwei Jahren nicht mehr angerührt. Für mich ist das Kapitel abgeschlossen. Wenn ich jemals noch springen sollte, dann nur für Werbefilme.
Vermissen Sie gar nicht die Emotionen, die Sie beim und durch das Skispringen erlebt haben?
Natürlich ist dieser Adrenalinkick, den man beim Skispringen hat, im normalen Leben schwer zu finden. Ich könnte jetzt andere Actionsportarten betreiben, aber das interessiert mich nicht. Mir geht der Kick nicht ab. Und das Hungern übrigens auch nicht. Ich bin froh, dass ich mit meinem Gewicht nicht mehr so am Limit bin.
Was meinen Sie konkret?
Als Skispringer stehst du vor der Herausforderung, möglichst wenig Gewicht zu haben. Und das über die gesamte Karriere. Da bewegt man sich gesundheitlich schon auf sehr dünnem Eis. Ich habe heute einige Kilo mehr als zu meiner aktiven Zeit. Von der Energie und vom Lebensgefühl her ist das etwas ganz anderes. Ich bin definitiv belastbarer und auch nicht mehr so gereizt.
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