Per Gleitschirm über die Streif: "Und dann hat er runter gespieben"
Hat das sein müssen? War das echt notwendig, dass Thomas Mai ausgerechnet jetzt mit der Geschichte von seinem letzten Passagier daher kommt? Wo wir doch gerade so gemütlich über den Hahnenkamm dahin schweben. Vor den Augen das Horn und der Wilde Kaiser, unter uns die Seidlalm, die wärmende Sonne im Rücken. Wenn dazu jetzt auch noch Hansi Hinterseer gesungen hätte – Kitzbühel hätte sich einen neuen Namen verdient: Kitschbühel.
Flug mit dem Gleitschirm über die Streif
Aber dann musste Thomas Mai ja auf die glorreiche Idee kommen und von diesem Engländer erzählen, der ihn wenige Tage zuvor auf seinem Tandem-Paragleitflug über die Streif begleitet hatte. „Der muss zu viel getrunken haben“, meint der 48-Jährige von hinten und man kann sein Grinsen förmlich spüren. „Und dann hat er halt runter gespieben.“
Cooles Gehabe
Na bravo. Genau das will man hören, wenn man hunderte Meter über dem Boden unter einem Gleitschirm baumelt. Wo man sich bislang doch solche Mühe gegeben hat, cool zu wirken und das Muffensausen mit flotten Sprüchen zu überspielen. So wie man es sich von den Abfahrern abgeschaut hat, die sich vor ihren Fahrten über die Streif auch gerne einmal in Galgenhumor flüchten.
Ob man denn jetzt endlich bereit wäre für ein bisschen Action, will Thomas Mai nun wissen. Der leidenschaftliche Gleitschirmpilot der Kitzbüheler Skischule element 3 hat es nicht so mit gemütlichen Ausflügen. Der 48-jährige Tiroler ist mit dem Gleitschirm bereits vom Mont Blanc geflogen und sogar schon einmal aus einem Helikopter gestartet. Das beruhigt irgendwie, als er an der Leine zieht und es plötzlich kopfüber nach unten geht. Andererseits aber auch wieder nicht.
Wilde Manöver
So ähnlich muss es sich anfühlen, wenn sich ein Abfahrer aus dem Starthaus der Streif abstößt. Es bleibt keine Zeit zum Nachdenken, von null auf 100 km/h in vier Sekunden – und bald kommt man sich nur mehr als Passagier vor.
Oben in der Luft beginnt sich die Welt jetzt zu drehen. Wo eben noch das Kitzbüheler Horn war, ist jetzt der Boden, bei dem Tempo, mit dem Thomas Mai mit dem Gleitschirm seine Manöver macht, kommt das Auge nicht mehr mit. Augenzeugen behaupten, dass wir einfache Achterschleifen geflogen wären, angefühlt hat es sich eher wie die Kombi 79450666.
Und zwangsläufig kommen einem die Aussagen der Abfahrer in den Sinn. Überfordert wären sie teilweise auf der Streif. Regelrecht anscheißen würden sie sich. Dem ist nichts hinzu zu fügen.
Die Welt verschwimmt, es pfeift, irgendwann rinnen die Augen dermaßen, dass man beschließt, den Flug als blinder Passagier fortzusetzen und alles einfach geschehen lässt. Unweigerlich muss man sich an den armen Engländer erinnern. Oder eben die armen Leute unten, je nachdem.
Großer Stolz
Es ist jetzt endgültig der Zeitpunkt gekommen, an dem man am liebsten die Reißleine ziehen würde. So wie sich die Abfahrer auf der Streif nach dem Ziel sehnen, will man nun endlich wieder festen Boden unter den Füßen haben. Sofort.
Irgendwann hört das Drehen endlich auf, man kann jetzt das Ziel sehen, die Menschen werden größer, die innere Unruhe kleiner. Und als Thomas Mai nach zehn Minuten Flug, die einem wie eine Ewigkeit vorgekommen sind, sanft neben der Talstation der Hahnenkammbahn landet, ist die Erleichterung groß. Aber auch der Stolz. Denn wie heißt’s in Kitzbühel so gerne:
„Jeder, der die Streif runterkommt, ist ein Sieger.“
Hinweis der Redaktion: Dieser Text erschien ursprünglich im Jänner 2019 wurde aufgrund des anstehenden Kitzbühel-Wochenendes aber adaptiert und aktualisiert.
Kommentare