Giro-Start in Ungarn: Milliarden Forint für eine rosarote Welt
„Giro d’Italia – Amore Infinito.“ Das rosa Leibchen mit diesem Aufdruck ist der Renner an den Verkaufsständen auf dem Heldenplatz in Budapest, gut 15 Meter lang ist die Menschenschlange vor dem „Giro-Store“. Ungarn ist zwar nicht gerade als Radsport-Land bekannt, doch die Begeisterung um den Start des Giro d’Italia ist groß.
Die 9.200 Meter lange Strecke des Zeitfahrens durch die Altstadt ist gesäumt von Menschen, sie stehen auch am finalen Anstieg, bei dem 150 Höhenmeter auf Kopfsteinpflaster mit bis zu 14 Prozent Steigung zu absolvieren sind. Schnellster Mann im Kampf gegen die Zeit war am Samstag der Brite Simon Yates, das Rosa Trikot verteidigte der Niederländer Mathieu van der Poel.
Bei kaum einer anderen Sportart kann man so nahe dran sein an den Athleten. Menschentrauben sammeln sich um die Trucks der Teams, vor denen sich die Profis auf ihren Rädern aufwärmen. Zu riechen ist das Muskelöl, schnell geschrieben sind die Autogramme, rasch gemacht die Selfies.
Im Minutentakt wird ein Fahrer von der Rampe gelassen, stets begleitet von „Whooooo!“ und Applaus. Faszinierend, welches Tempo die Athleten schon nach 60 Metern erreichen, wie schnell sie an der Menschenmenge vorbeifliegen, verfolgt von ihrem Mannschaftswagen.
„Ich war überrascht, wie viele Leute da waren, das war ein Wahnsinn“, sagt etwa der Österreicher Felix Gall, Giro-Debütant und Kapitän des Teams AG2R. „Da ist eine richtig coole Stimmung.“ Wobei: „Echtes Giro-Flair werden wir wahrscheinlich erst spüren, wenn wir dann nach Italien übersiedeln.“
Der Radsport lebt von seiner Tradition. Lüttich–Bastogne–Lüttich wird seit 1892 regelmäßig ausgetragen, die Tour de France seit 1903, der Giro d’Italia seit 1909. Doch auch der Radsport ist ein riesiges Geschäft, Marketingaspekte dominieren vor allem die großen Rundfahrten immer stärker.
Und so begann die Italien-Rundfahrt zum 14. Mal in ihrer Geschichte nicht in Italien, sondern am Freitag mit einer Flachetappe von Budapest nach Visegrád. Am Samstag folgte das kurze Zeitfahren durch Budapest, am Sonntag führt eine weitere Flachetappe zum Plattensee.
Ungarn zeigt sich dabei von seiner sympathischen Seite. 100 Tage vor dem Giro-Start gab es die „Nacht der rosa Lichter“, bei der 37 Sehenswürdigkeiten entlang der Strecke rosa beleuchtet wurden. Vier Wochen lang warb ein rosa Würfel auf dem Heldenplatz in Budapest für das Rennen und zählte die Tage, Stunden und Minuten bis zum Rennstart herunter. Das Land von Viktor Orbán präsentiert sich weltoffen und gastfreundlich; der Name „Visegrád“ steht für den Zielort der ersten Etappe und nicht für Hardliner-Standpunkte in der Flüchtlingspolitik.
So bleibt der Giro-Start für Ungarn ein Imagegewinn, der in Folge vor allem den Tourismus wiederbeleben soll. Schier unbezahlbar scheint die Werbewirkung der TV-Bilder, die stundenlang Radfahrer zeigen, die an Sehenswürdigkeiten vorbei durch blühende Landschaften fahren. Am Freitag wurde sogar organisiert, dass als Husaren verkleidete Reiter neben dem Peloton herjagen – alles eingefangen von den Kameras.
Geschichte: Der Giro d’Italia gehört neben der Tour de France und der Vuelta a España zu den drei großen Rundfahrten des Radsports, den Grands Tours. Erstmals wurde das Rennen 1909 ausgetragen.
Rosa Trikot: Der Gesamtführende trägt das Rosa Trikot („Maglia Rosa“). Die Farbe ist abgeleitet von der „Gazzetta dello Sport“, dem ersten Veranstalter des Rennens, die auf rosa Papier gedruckt wird
14-mal startete der Giro nicht in Italien - den Anfang machte 1965 San Marino, 2018 verschlug es die Italien-Rundfahrt bis nach Jerusalem.
Beim Veranstalter RCS sprudelt dafür das Geld. Verlässliche Zahlen gelangen nicht an die Öffentlichkeit, bekannt ist jedoch, dass Israel im Jahr 2018 ein Gesamtbudget von 27 Millionen Euro aufbrachte, um drei Etappen des Giro ins Land zu holen. Ungarn soll das Spektakel nun acht Milliarden Forint (rund 21 Millionen Euro) wert gewesen sein.
„Der Giro beginnt in Ungarn, die Tour de France in Dänemark und auch die Spanien-Rundfahrt startet im Ausland“, sagt bei Eurosport der ehemalige Radprofi Giuseppe Martinelli, der nun Teamchef von Astana ist. „Man sucht immer das Geschäft, das ist eine normale Entwicklung. Aber die Teams bringt das in ziemliche Schwierigkeiten.“
Der 67-Jährige spricht sogar von zwei Rennen. Denn während ein Tross in Ungarn ist, befindet sich ein zweiter Mannschaftsbus und Materialwagen schon in Sizilien, wo das Rennen am Dienstag mit einer vermutlich spektakulären Bergankunft am Ätna fortgesetzt wird.
Der Ruhetag am Montag ist in Wahrheit ein Reisetag, an dem 1.200 Kilometer im Flugzeugen zurückgelegt werden müssen oder 2.000 mit Autos. Die gesamte Renndistanz beträgt 3.410 Kilometer.
Keine politische Diskussion
Nicht nur diesbezüglich gibt es kritische Fragen. Beantwortet werden sie aber nicht gerne. So sagte etwa Paolo Bellino, der CEO des Giro-Veranstalters RCS, auf die Frage, ob auch LGBTQ+-Personen den Giro im konservativ regierten Ungarn genießen können: „Wir konzentrieren uns darauf, ein unglaubliches Event mit den besten Fahrern der Welt im italienischen Stil auf die Beine zu stellen. In politische Diskussionen möchte ich mich nicht einmischen. Ich bin schließlich ein Organisator von Sport-Veranstaltungen.“
Giro d’Italia, 2. Etappe (Einzelzeitfahren in Budapest, 9,2 km): 1. S. Yates (GBR) Bike Exchange-Jayco 11:50, 2. Van der Poel (NED) Alpecin-Fenix +3, 3. Dumoulin (NED) Jumbo-Visma +5, 42. Brändle (AUT) Israel-Premier Tech, 101. Gall (AUT) AG2R Citroën +58, 126. P. Gamper (AUT) Bora-hansgrohe +1:08, 176. Bayer (AUT) Alpecin-Fenix +2:24 (gestürzt).
Gesamtwertung: 1. Van der Poel 4:47:11, 2. S. Yates +11, 3. Dumoulin +16, 4. Sobrero (ITA) Bike Exchange-Jayco +24, 5. Kelderman (NED) Bora-hansgrohe gl. Zeit, 46. Gall +1:09, 114. P. Gamper +3:34, 119. Bayer +3:47, 149. Brändle +6:00.
Sonntag: Kaposvár–Balatonfüred (201 km).
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