Sorgenkind Leichtathletik: Hindernislauf der Zeit

Gerhard Mayer of Austria competes during the men's discus throw qualifying event at the IAAF World Championships in Daegu August 29, 2011. REUTERS/Kai Pfaffenbach (SOUTH KOREA - Tags: SPORT ATHLETICS)
Österreich steht in der Elementarsportart vor elementaren Problemen.

Ein bisschen muss sich Gerhard Mayer gerade fühlen wie eine Attraktion auf dem Jahrmarkt. Mit seiner Physis hat das allerdings nichts zu tun. Obwohl die 112 Kilo Muskelmasse, verteilt auf 1,91 Meter Körpergröße, schon Jahrmarkt-tauglich sind. Gerhard Mayer ist dennoch ein Hingucker, der Vorletzte seiner Art, ein Unikat beinahe also.

Phönix-Sportplatz in Schwechat, Mittwochnachmittag. Scheinwerfer und Kamera sind auf den 33-Jährigen gerichtet. Mayer posiert, muss posieren. Drei Tage später wird er abheben Richtung Moskau, wo der Diskuswerfer gemeinsam mit Mittelstreckenläufer Andreas Vojta (1500 Meter) die österreichischen Fahnen bei der Leichtathletik-WM hoch halten wird. Ein kleineres Team hat Österreichs Verband noch nie zu einer WM entsandt. Für viele markiert dieses Mini-Aufgebot einen neuen rot-weiß-roten Tiefpunkt in der Elementarsportart Leichtathletik. „Frustrierend und unglaublich“, meint Sprint-Rekordhalter Andreas Berger gar.

Ein wenig täuscht das Rumpf-Aufgebot freilich. Eigentlich hatten ja sechs Athleten die WM-Norm erfüllt: Die Marathonläufer Andrea Mayr und Günther Weidlinger verzichteten auf den WM-Start, Ivona Dadic (Siebenkampf) und Beate Schrott (Hürdenlauf) mussten verletzt passen. Dennoch: „In vielen Disziplinen gibt es keine Dichte“, sagt Andreas Vojta. Der 24-Jährige greift am Mittwoch in die Titelkämpfe ein und peilt das Halbfinale an. Vor wenigen Wochen bei den Staatsmeisterschaften spielte sich Vojta noch mit den Gegnern, auf die nationale Bestmarke von Weidlinger fehlte ihm dennoch fast eine halbe Minute.

Sorgenkind Leichtathletik: Hindernislauf der Zeit
28.07.2013 Leichtathletik Österreichische Staatsmeisterschaften 2013 in Feldkirch, 1500 m Männer, Andreas Vojta (273)
Überhaupt verweist die österreichische Rekordliste auf eine längst vergangene Epoche. Die meisten Bestmarken stammen noch aus dem vorigen Jahrtausend, als österreichische Athleten von Großereignissen öfter mit Medaillen zurück gekehrt waren. „Eine gute Generation“, sagt Andreas Berger, der Halleneuropameister von 1989. In diese Ära fallen auch die EM-Titel von Klaus Bodenmüller (Kugel) sowie die Medaillen von Sigrid Kirchmann (Hochsprung), Sabine Tröger (200 m) oder Hermann Fehringer (Stabhochsprung).

Langzeitrekord

Der älteste Rekord stammt gar aus den 70er-Jahren. Karoline Käfers Bestzeit über 400 Meter ist seit 1977 unerreicht. Auch Gregor Högler ist bereits seit 14 Jahren das Maß aller Dinge. „Ein wenig stolz macht mich das schon“, sagt der Rekordhalter im Speewurf, „schön langsam darf aber jemand Neuer kommen.“ Das dürfte dauern. Bei den Meisterschaften warf der Sieger fast 15 Meter kürzer als einst Högler. „Ich war eben ein Verrückter, was Training und Entbehrungen betrifft.“

Mittlerweile ist Högler der für die Wurf-Disziplinen verantwortliche Trainer im österreichischen Verband (ÖLV), seit Jahren greift er auch Diskuswerfer Mayer unter die kräftigen Arme. Ein Vollzeit-Job, wie der 43-Jährige zugibt, angestellt ist er beim Verband aber nur für zwanzig Stunden. Einen hauptamtlichen Trainer sucht man im ÖLV ohnehin vergeblich. Zum Vergleich: Allein in Bayern gibt es sechs. „Wir brauchen uns daher bitte nie mit Deutschland zu vergleichen“, sagt Högler.

Idealismus

Jammern will er nicht. Obwohl um jeden Cent gekämpft werden muss; obwohl er mit seinen Athleten täglich zwischen vier Trainingsstätten pendelt. „Das sorgt zumindest für Abwechslung und macht kreativ.“ Eine Wurfmaschine, an der seine Schützlinge auch im Winter trainieren können, hat Högler, ein gelernter Maschinenbauer, in Heimarbeit und auf eigene Kosten konstruiert. Eine finanzielle Entschädigung vom Verband gab es erst Jahre später. „Leichtathletik braucht einen kräftigen Schuss Idealismus“, sagt Högler. Gerhard Mayer nickt. Sein Trainingsplan bis Olympia 2016 in Rio steht. Inkludiert sind Schweiß und Entbehrungen. Der nächsten Generation scheint indes der Antrieb zu fehlen. „Wir spüren bei den Jungen, dass es nicht mehr in Mode ist, sich zu quälen. Das müssen wir besser vermitteln“, meint Högler.

Ein wichtiger Schritt soll die Einigung mit dem ORF sein, der erstmals seit 20 Jahren bei einer WM wieder im Bilde ist. „Das war ein Kraftakt“, sagt ÖLV-Präsident Ralph Vallon. Es ging, natürlich, ums Geld. „Unbezahlbar“ für die österreichische Leichtathletik seien dafür Top-Meetings wie in Götzis oder auf der Linzer Gugl. Vallon: „Die setzen uns auf die internationale Landkarte.“

Auch Innsbruck war einmal ein goldener Boden. Beim legendären Alpenrosen-Meeting traf sich seinerzeit das „Who is Who“ der Leichtathletik: Von Ben Johnson über Florence Griffith-Joyner bis Mike Powell. „Das waren sensationelle Jahre“, erinnert sich Organisator Wolfgang Mader. Heute wäre ein solches Meeting unmöglich. Nicht nur weil es an Idealisten fehlt. Die Leichtathletik-Anlage, die neben dem Tivolistadion neu errichtet wurde, hat nur vier Laufbahnen.

Es gibt kaum ein Ereignis, das die Sportfans so in den Bann zieht wie der 100-Meter-Lauf der Männer. Vor einem Jahr waren zwei Milliarden Menschen Augenzeuge, als Usain Bolt in London im Laufschritt zu Olympiagold eilte. Es darf bezweifelt werden, dass der heutige Endlauf bei der Weltmeisterschaft in Moskau (19.50 Uhr/live in ORF Sport+) auf ein ähnliches Echo stößt. Zu klar scheint die Angelegenheit für den jamaikanischen Weltrekordhalter, dem langsam die Gegner ausgehen; zu lang ist der Schatten der jüngsten Dopingaffäre rund um die Sprinter Tyson Gay (USA) und Asafa Powell (Jam). „Ich bin jedenfalls hier, um meinen Titel zurückzuerobern“, meint Bolt. Vor zwei Jahren in Südkorea war für den schnellsten Mann der Welt der 100-Meter-Lauf nach einem Fehlstart vorzeitig zu Ende.

Pechvogel Hardee

Ein Schicksal, das nun in Moskau Tray Hardee ereilte. Für den Weltmeister von 2011 war der Zehnkampf nach vier Disziplinen vorbei. Der Amerikaner brachte im Hochsprung keinen gültigen Versuch in die Wertung.

In der ersten WM-Entscheidung von Moskau waren die Mütter die First Ladys. Im Damen-Marathon setzte sich die Kenianerin Edna Kiplagat in 2:25,44 vor der Italienerin Valeria Straneo durch. Beide sind Mütter von zwei Kindern.

„Vierstundensiebenundvierzig“. Die Antwort kommt wie aus der Startpistole geschossen. So schnell dürfte der schnellste Mann von Österreich sein Marathon-Debüt offenbar nicht mehr vergessen. „Die letzten Kilometer waren furchtbar“, erinnert sich Andreas Berger mit Schrecken an seine ersten 42.195 Meter im Frühjahr in Linz. „Einmal und nie wieder.“

In seiner aktiven Zeit war der Oberösterreicher ein Mann der schnellen Schritte und kurzen Wege. Berger, dessen Landesrekord über 100 Meter aus dem Jahre 1988 (10,15 Sekunden) wohl noch einige österreichische Leichtathletik-Generationen überleben wird, war einst der schnellste Weiße der Welt. 1989 wurde er sogar Halleneuropameister. Das Ende seiner Karriere war dann weit weniger rühmlich: 1993 wurden Berger und seine Sprinterkollegen Franz Ratzenberger, Gernot Kellermayr und Thomas Renner positiv auf Anabolika getestet. „Danach bin ich eine Zeit lang richtig durch die Scheiße gegangen“, erklärt der 52-Jährige, „aber das ist eben ein Teil meiner Geschichte.“ Die ganzen Dopingdiskussionen der Gegenwart findet er „heuchlerisch. Man will einerseits Weltrekorde sehen, andererseits aber auch einen sauberen Sport.“

Innovationen

Die Weltmeisterschaft in Moskau verfolgt Andreas Berger nun mit Interesse, „aber ohne richtige Euphorie.“ Sein Herz hängt nun an seiner innovativen Arbeit und seinen Projekten: So erfand Berger mit seiner Frau das Red Bull 400, einen Laufbewerb, bei dem die Teilnehmer die Skiflugschanze in Bad Mitterndorf von unten nach oben bewältigen müssen. „Natürlich habe ich das selbst ausprobiert“, schmunzelt Berger, der mit seiner Idee mittlerweile auf Tournee gegangen ist und auch Bewerbe auf der Flugschanze Planica organisiert.

Noch weit spannender klingt Bergers Brotberuf als Vertreter der oberösterreichischen Firma Abatec. Das Unternehmen entwickelt unter anderem Positionsmess-Systeme in Echtzeit, die pro Sekunde tausend Informationen messen können. Etliche renommierte Fußballvereine, von Bayern München bis Ajax Amsterdam, vom FC Basel bis zu PSV Eindhoven, greifen bereits auf diese Technik zurück, um Aufschlüsse über die Bewegungsabläufe, aber auch die Fitness ihrer Spieler zu bekommen. Österreich ist diesbezüglich noch ein weißer Fleck. „Wir sind mit unserer Technik offenbar der Zeit voraus“, sagt Österreichs schnellster Mensch.

Herren: Zehnkampf (11.8., 18.35), 100 m (11.8., 19.50), Stabhochsprung (12.8., 17.00), 110 m Hürden (12.8., 19.30), Hochsprung (15.8., 17.00), Weitsprung (16.8., 17.30), Marathon (17.8., 13.30), 200 m (17.8., 18.05).

Damen: Weitsprung (11.8., 17.00), 100 m (12.8., 19.50), 100 m Hürden (17.8., 17.30).

Die Österreicher

Gerhard Mayer: Diskus-Vorkampf (Montag, 7.40/9.05). Andreas Vojta: Vorlauf 1500 m (Mittwoch, 8.35).

Im TV

ORF Sport +, Eurosport, ARD/ZDF übertragen an allen Tagen live.

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