Die Favela Rocinha: "Hier bist du sicher"
Umgeben von Bergen aus Müll und rostigen Auto-Ersatzteilen wird man Zeuge eines Wunders. Rafaela Silva holt die erste Goldmedaille bei diesen Olympischen Spielen für Gastgeber Brasilien, die Judoka weint und hüpft in der Halle des Olympia-Parks, die Menschen jubeln und hüpfen in dem schäbigen Fitnessstudio im Stadtteil Rocinha, der größten Favela des Kontinents.
In den Jubel mischt sich Genugtuung: "Sie wollen eigentlich nicht in Brasilien, dass Favela-Leute Erfolg haben", sagt Alberto Beltrão, "das zeigt ihnen, dass auch unser System funktionieren kann."
Mit "ihnen" sind die Politiker in Brasília gemeint, aber auch die Mittelschicht Rio de Janeiros in deren Apartmenthäusern von Ipanema oder Leblon, auf die die Menschen von Rocinha eher verachtend als neidisch vom Hügel aus herabblicken.
Einst elendig, heute hip
"Unser System" bedeutet das Leben in der Favela, ein Mikrokosmos mit eigener Infrastruktur und eigenen Regeln, wie ein Besuch in Rocinha zeigt. Mindestens 150.000 Menschen leben hier.
"In Copacabana ist es wirklich gefährlich, hier bist du sicher", sagt Alberto Beltrão. Der 54-Jährige lebt seit fünfzig Jahren hier, an diesem Tag führt er den Besucher aus Wien durch seine Stadt in der Stadt. Langsam, aber doch kommen immer mehr Touristen nach Rocinha. Was einst als elendig galt, ist heute hip. Wer sich einsteigen traut in den öffentlichen, heillos überfüllten Kleinbus, der sich die steilen Serpentinen der Zona Sul hinaufquält, der bekommt nicht nur einen der schönsten Ausblicke über die Stadt geboten, sondern auch Eindrücke einer anderen Welt.
Einen Teil der Einnahmen liefern die Taxler an die ADA ab. Die Amigos dos Amigos (Freunde der Freunde) sind der bestimmende Clan in Rocinha. Zwar gilt die Favela seit einigen Jahren nach einem Polizeieinsatz offiziell als befriedet, doch an der Rangordnung soll sich wenig geändert haben. "Puppen" seien die wenigen Polizisten hier.
Drogen für die Reichen
Zu groß und unübersichtlich ist Rocinha geworden, zu mächtig und organisiert die Banden, um die Favela wieder in die Stadt einzugliedern. Während das Geschäft mit Kokain und Gras für die Reichen in Downtown blüht, verwaltet sich die Favela selbst. Vier Schulen gibt es, zwei Krankenhäuser, eine Kirche, ein Postzustellungssystem und sogar eine privat organisierte Bank. Da die Geldtransporter der offiziellen Bankinstitute aus der Stadt ungern in die Favela hinauffahren, liefert die Favela-Bank das Geld einfach hinunter.
Als Filiale dient ein Lotterien-Kiosk. Steuern an die Stadt oder den Staat zahlt hier niemand. Ebensowenig für Telefon oder Fernsehen. "Du rufst einfach einen Techniker, gibst ihm ein bisschen Geld, und er schließt dich ans Netz an", erklärt Alberto Beltrão. Überall hängen Kabel von Häusern und von Bäumen, und überall läuft der Fernsehapparat.
Gewalt oder Gefahr ist auf den ersten Blick keine wahrzunehmen, doch spürbar in konstanter Form der Androhung. "Wenn du heute eines der Mädchen hier anfasst und sie will es nicht, triffst du morgen deinen Schöpfer", sagt ein Mann in einer Straßenbar. Ob übertriebenes Machogehabe oder fürchterliche Realität – so genau lässt sich das nicht ergründen.
Alberto Beltrão lebt nicht ungern in der Favela Rocinha: "Es ist nicht der beste Ort der Welt, aber auch nicht der schlechteste in Rio."
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