Der schnelle Wahnsinn

Usain Bolt
Sonntagnacht sprintet Usain Bolt um die wichtigste Medaille bei den Olympischen Spielen. Doch die Konkurrenz ist groß für den Jamaikaner im Lauf um sein siebentes olympisches Gold.

Passieren kann immer etwas: ein Fehlstart, eine Zerrung, ein Stolperer. Aber gehen wir einmal nicht davon aus. Gehen wir davon aus, dass in der Nacht von Sonntag auf Montag im Olympiastadion von Rio die acht schnellsten Männer der Welt um die olympische Goldmedaille im 100-Meter-Lauf sprinten werden.

56.437 Zuschauer im Stadion und Hunderte Millionen vor den TV-Geräten in aller Welt blicken um 22.25 Uhr Ortszeit (3.25 MESZ) auf die Finalisten. Sie sehen dort wohl auch jenen Mann, der zuletzt die Geschichte der Leichtathletik umgeschrieben hat: Usain Bolt. Im Vorlauf am Samstag spazierte er wieder einmal lässig ins Semifinale (10,07).

Der Abräumer

Bei seinen Starts in Peking 2008 und London 2012 räumte Bolt alles ab. Er gewann jeweils über 100 Meter, 200 Meter und mit der 4-x-100-Meter-Staffel – und wurde damit zur Legende.

Bolt polarisiert nicht, Bolt begeistert. Der 29-Jährige spielt in einer Liga mit Lionel Messi oder Tiger Woods. Es gibt kaum einen anderen Sportler, der so einen Hype aufgebaut hat.

Zu Leichtathletik-Meetings kommen die Fans wegen Bolt – wofür er sich mit fürstlichen Antrittsgagen belohnen lässt. Seine Jahresgage soll bei 32,5 Millionen Dollar liegen. Insgesamt soll er schon 145 Millionen Dollar verdient haben.

Die meisten lieben Bolt, jeder kennt Bolt. Man weiß, dass er gern Chicken McNuggets isst und die Teigtaschen von Tante Lilly. Er liebt Guinness-Bier, Videospiele und Manchester United. Er ist Langschläfer und hat für den Alltag in seiner Villa in Kingston eine Regel aufgestellt: "Weckt mich nie zu früh auf!"

Manchmal ist er allerdings zu aufgeweckt – wie bei der Leichtathletik-WM 2011, als er einen Fehlstart fabrizierte und ausschied.

Es ist möglich, dass Jamaika auf der Sprintstrecke wieder alle übertrumpft. Die Gründe dafür sind vielfältig:

Bolts Fans glauben an ein Wunder.

In Österreich denkt man eher an Doping.

In England spricht man über die schnellen Muskelfasern ehemaliger Sklaven aus Westafrika.

Die Rutgers University in New Jersey publizierte, dass die Jamaikaner auffallend oft symmetrische Knie haben. Und symmetrische Knie machen Läufer schnell.

In Jamaika hat man mehrere Erklärungen: Jamaikaner wollen keine Fußballer werden, Jamaikaner wollen Sprinter werden; die Schulwege der Kinder sind lang, die Ernährung ist gut; Laufen auf Gras ist gut für die Muskulatur.

Der Beste

Und dann ist da noch Bolts unerschütterliches Vertrauen in sein Können: Das Wort "Niederlage" existiert nicht in seinem Wortschatz. Dabei war Bolts Vorbereitung auf den olympischen Sprint durchwachsen. Zuerst starke Zeiten, aber keine Zeiten, mit denen man ein Olympia-Finale gewinnen kann (9,88 Sekunden). Dann eine Oberschenkelverletzung. "Es war keine perfekte Saison, aber ich bin nun in einer viel besseren Form und schneller", beruhigte er vorab – sich, aber vor allem seine Fans.

Dennoch will er das Triple: Gold über 100 Meter, 200 Meter und in der Staffel. Dazu soll, wenn es nach ihm geht, der 200-Meter-Weltrekord fallen und die Show nicht zu kurz kommen.

"Ich bin ein Sprinter, aber auch ein Entertainer", sagte Bolt. "Ich versuche, den Unterschied zu machen, deshalb lieben mich die Leute." In Rio versucht Bolt, ein wenig zur Ruhe zu finden. Ein kurzes Interview da, ein Sponsor-Termin dort. Aus.

Mit seinen starken Sprüchen hielt er sich in Rio zurück. "Ich mache nicht viel", erzählte er und hielt sich im olympischen Dorf meist in seinem Zimmer auf.

Dort erhielt er Besuch von seinen Eltern. Wellesley und Jennifer Bolt fuhren nach Barra da Tijuca raus und räumten jeden Zweifel über ein Antreten über 100 Meter aus dem Weg. Die Mutter erzählte: "Er sagte: ,Mama, wenn ich nicht bereit wäre, wäre ich nicht hier, weil ich’s nicht so mit dem Verlieren habe.‘"

Und dann gab Jennifer Bolt ein paar Anekdoten zum Besten. Ihr Sohn sei immer schon schnell gewesen. Eine Ausnahme hatte es gegeben – Usain sei zehn Tage nach dem anvisierten Geburtstermin auf die Welt gekommen.

Usain Bolt heißt der Star und Titelverteidiger, Justin Gatlin ist der große Herausforderer. Gerne wird das Duell auf einen Nenner gebracht: Gut gegen Böse. Denn was auch immer Bolt tatsächlich macht, eines Dopingvergehens wurde er noch nie überführt. Ganz anders sein größter Rivale.

Der Bösewicht

Der US-Sprinter ist der böse Bube, beim 34-Jährigen läuft die Skepsis immer mit. Zwei Mal musste er schon eine Dopingsperre absitzen, nur knapp entkam er einer lebenslangen Suspendierung. "Das System hat funktioniert. Ich denke, die Leute müssen aufhören, Richter, Gericht und Henker zu sein und das System seinen Job machen lassen", sagte er. "Ich bin mit der Strafe zurechtgekommen, ich habe mich weiterentwickelt."

Gatlin fühlt sich konstanter als in den vergangenen Jahren, mit 9,80 Sekunden hat er 2016 schon eine Top-Zeit stehen. "Die ganze Welt schaut uns für neun Sekunden zu", sagt er. Ob es seine letzten Duelle mit Bolt werden? "Darüber habe ich mir echt keine Gedanken gemacht", beteuert der zweimalige Weltmeister und Olympiasieger von 2004. "Es wird ganz besonders, ich muss bereit dafür sein."

Die Konkurrenz

Trayvon Bromell ist 13 Jahre jünger als US-Landsmann Gatlin und führt die Riege der zweiten Garde an. Allerdings plagten ihn zuletzt Achillessehnenprobleme. Gut für eine Medaille ist auch Yohan Blake. Auch Bolts Landsmann plagte sich lange mit der Achillessehne. Vier Mal blieb Blake heuer schon unter der Zehn-Sekunden-Marke. Als Bolt der Fehlstart passierte, gewann er bei der WM 2011 in Daegu die 100 Meter. Druck auf Bolt machen auch US-Youngster Marvin Bracy (9,84) und der Franzose Jimmy Vicaut (9,86).

Möglicherweise ist es das letzte Mal, dass sie sich mit Usain Bolt in einem Lauf messen werden. Denn der hat angekündigt, mit 30 Jahren "sicher nicht mehr" laufen zu wollen. Am kommenden Sonntag, am Schlusstag der Olympischen Spiele, hat er Geburtstag.

Dann wird Usain Bolt 30.

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