„Es braucht viele Wunder, um Auschwitz zu überleben, aber das größte Wunder war, dass ich mich als Boxer ausgab, obwohl ich keiner war.“ Noah Klieger (1926 - 2018) war ein Mann mit außergewöhnlichem Gefühl: für Sprache, für Geschichten, für Gerechtigkeit, für Toleranz. Und fürs Überleben.
Bestsellerautor Takis Würger durfte dessen Erinnerungen aufschreiben und beim Treffen mit dem KURIER erneut erzählen. Mit Bedacht wählt er die Worte von Noah Kliegers Lebensgeschichte, die für beide zur Story ihres Lebens wurde. Das Buch wurde zum Bestseller.
Takis Würger:Noah Klieger wurde 1943 als Jugendlicher mit 17 Jahren von Belgien nach Auschwitz deportiert. Als er dort ankam, wurde er mit über 1.000 anderen Häftlingen aus seinem Transport in eine Lagerhalle gesperrt – im Januar bei minus 25 Grad. Die Halle hatte kein Dach, und sie waren alle nackt. Die Deutschen haben diese Menschen dort eingesperrt und nach 24 Stunden die Tür wieder aufgemacht, sehr viele dieser Menschen waren tot. Drei SS-Leute kamen in die Halle und stellten die absurde Frage: „Wer von euch ist Boxer?!“
Noah war kein Boxer, aber er dachte, wenn die einen Boxer suchen, kann das nichts Schlechtes sein. Und an so einem völlig wahnsinnigen Ort, wo die Lebenden zwischen den Toten stehen, musste er jede Chance ergreifen, um zu überleben. Er hatte die Intuition, sich zu melden und wurde zu einem der Boxer der Boxstaffel Auschwitz, die zur Belustigung der SS kämpften.
Damals gab es eine große Tradition erfolgreicher jüdischer Boxer in Europa. Deshalb waren in dieser Boxstaffel Weltmeister wie Viktor Perez, Europameister, Landesmeister, und da war Noah Klieger – der noch nie in seinem Leben im Boxring stand. Die anderen haben das natürlich sofort gemerkt und wussten, wenn die Nazis draufkommen, dann wird er sofort vergast. Sie haben ihm schnell Grundtechniken beigebracht und die Kämpfe gefaked, indem sie nicht so fest zuschlugen, wie sie konnten. Zwar brachen sie ihm die Nase, aber so überlebte er. Noah verlor all seine 22 Kämpfe, aber gewann sein Leben.
KURIER: Herr Würger, wie haben Sie Noah Klieger kennengelernt?
Da war er schon über 90 und hielt einen Vortrag in einer Oberstufe in Schwaben. Als der 1,50 Meter große Mann mit weißen Haaren und Rollator den Saal betrat, wurde es sofort ruhig. Das Erste, was Noah Klieger sagte, war: „Ich bin ein Überlebender!“ Das hatte eine solche Stärke und war so besonders, dass ich wusste, die Erinnerungen dieses Mannes möchte ich aufschreiben.
Wie ist es zu der Zusammenarbeit gekommen?
Durch einen Freund vor fünf Jahren. Anfangs wollte ich Noah überzeugen, dass ich sein Leben aufschreiben darf – und Noah dachte, er müsse mich davon überzeugen, dass ich sein Leben aufschreibe (lacht). Noah war ein Kämpfer und ein Held. Er wollte, dass das Leid, das ihm angetan wurde, und die Leistung, die er vollbracht hatte, in Erinnerung bleiben.
Für das Buch durften Sie zweieinhalb Monate mit ihm in Tel Aviv verbringen.
Das war ein ganz großes Geschenk. Als Deutscher, der kein Jude ist, als Nachfahre von Nazis, zu einem jüdischen Überlebenden nach Israel reisen zu dürfen und dann als Freund empfangen zu werden – das war die Geschichte meines Lebens. Erinnerungen funktionieren nicht wie Fotos, sondern wie gemalte Bilder. Die Geschichten Noah Kliegers sind gemalte Erinnerungen.
Wie war Noah Klieger als Kind?
Mit 13 schloss er sich dem Widerstand an und schmuggelte jüdische Kinder aus Belgien in die damals sichere Schweiz. Noah widersetzte sich immer der Terrorherrschaft der Nazis. Er war als Kind schon mutig, blieb sich treu in seinem moralischen Kompass, setzte sich für andere ein und hatte eine unglaubliche Stärke in sich.
Nur mehr wenige haben das Glück, einen Überlebenden der Shoah live zu treffen. Diese Verbrechen sind für viele heute gefühlt so weit weg wie der Dreißigjährige Krieg oder das alte Rom. Doch das ist eine große Fehleinschätzung, weil Täter und Opfer teilweise noch leben.
War er mit 90 noch wütend über den Holocaust?
Wut hatte er nie, aber er fragte sich bis zu seinem Tod, wie das passieren konnte. Noah sagte mir: „Ich denke jeden Tag an Auschwitz.“ Über 100-mal war er danach noch dort und sagte dazu: „Es ist eine Art Pilgerfahrt für die, die ich dort kennenlernte und die hiergeblieben sind. Denn Auschwitz ist der größte Friedhof der Weltgeschichte – ohne ein einziges Grab.“
Es gibt mittlerweile kaum noch Zeitzeugen. Wie kann man in Zukunft mit der Erinnerung umgehen? Sie haben ein Buch geschrieben, wir reden darüber. Reicht das wirklich noch aus?
Ich glaube, das kann nicht reichen. Nichts, was wir heute tun können, kann wieder gutmachen, was den Menschen angetan wurde. Nutzen wir die Zeit, um den letzten Zeitzeugen zuzuhören.
Noah Klieger arbeitete nach dem Holocaust als Journalist. Sie selbst waren für das Magazin „Der Spiegel“ u. a. in Afghanistan, Nordafrika, Irak. Was konnten Sie von diesen Arbeitsreisen persönlich mitnehmen?
Es erlaubt dir, die Welt in ihrem ganzen Spektrum zu sehen – im Guten wie im Schlechten. Darüber schreiben zu dürfen, war ganz entscheidend für meinen Weg als Autor. Es ist die Arbeit von Journalisten, dort hinzugehen, wo die Wahrheit in Gefahr ist. Und in Kriegsgebieten ist das meistens der Fall.
Sie wurden für viele Ihrer Arbeiten mehrfach ausgezeichnet. In Ihrer Vita steht aber nicht, worauf Sie persönlich wirklich stolz sind. Sind es die Preise?
In meinem Lebenslauf stehen nicht die Niederlagen. Ich habe in Cambridge studiert, aber in meiner Vita steht nicht, dass ich mich vorher in Oxford beworben und eine Absage bekommen habe. Ich habe zehn Journalistenpreise gewonnen, aber 100 nicht bekommen. Ich bin auf eine ganz tolle Journalistenschule in Hamburg gegangen, wurde ein Jahr vorher aber in München abgelehnt. Preise habe ich auch keine im Regal stehen. Mein Vater hat ein paar, einen hab’ ich in die Spree geworfen, mein Bruder hat einen verloren. Was du aber nicht verlieren kannst, ist dieses Gefühl, richtig toll zu scheitern und dann im nächsten Jahr es zu packen. Das ist auch etwas, das ich im Kampfsport gelernt habe.
Sie haben selbst einige Boxkämpfe bestritten. Boxen Sie heute noch?
Ich mache keine Kämpfe mehr, gehe aber noch jeden Tag ins Gym, trainiere und mache leichtes Sparring. Ich beschäftige mich viel mit kompliziertem Zeug. Schriftstellerei ist schon ein Beruf, wo man viel nachdenkt. Du musst jeden Satz so schreiben, dass der Leser auch den nächsten Satz lesen will. Das klingt banal, aber bringt es auf den Punkt. Das muss man halt beim Boxen nicht, und das finde ich ausgesprochen angenehm.
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