Holocaust-Überlebende: „Dann fielen die Schüsse und wir in die Grube“

Aliza Landau erzählt von ihrer jahrelangen dramatischen Flucht als Kind
In Tel Aviv erhielten acht Nachkommen von NS-Verfolgten die österreichische Staatsbürgerschaft. Eine Holocaust-Überlebende berichtete Europaministerin Edtstadler über ihre Kindheit in Angst.

Auf der einen Seite die frisch ausgehobene Grube. Auf der anderen die deutschen Soldaten. Dazwischen eine Gruppe Juden, die aus ihren Verstecken im Wald zusammengetrieben wurden. Dabei: Ein Vater mit seinem Sohn im Arm, der Stunden zuvor gestorben war, an Hunger. Und seine Tochter, sechs Jahre alt, mit vier Jahren Flucht und Wanderschaft durch Polen im Rücken: „Mein Vater hat seine Hand auf meinen Kopf gelegt und gesagt: ,Fürchte dich nicht, es passiert dir nichts‘ – das war das Letzte, was ich von ihm jemals gehört habe.“

Aliza Landau, 1938 im polnischen Lodz geboren, sitzt auf ihrem Sofa in Tel Aviv und erzählt ihr Leben, wie sie es schon Hunderte Male getan hat. Die Stille im Raum mit seinen gut 20 Zuhörern übertönt den Straßenlärm draußen vor der Terrassentür – man könnte eine Stecknadel fallen hören.

Dramatische Stunden

„Dann fielen die Schüsse und wir fielen in die Grube. Nach einiger Zeit waren die Stimmen der Soldaten weg und ich versuchte, meinen Vater aufzuwecken – aber er würde nie wieder aufwachen“, spricht Landau weiter. Sie gab ihm einen Kuss, wand sich aus den Körpern um sie herum heraus und kletterte an Wurzeln in der Dunkelheit aus dem Grab. Als einzige Überlebende des Mordens im polnischen Wald.

Holocaust-Überlebende: „Dann fielen die Schüsse und wir in die Grube“

Aliza Landau mit Karoline Edtstadler, die wie alle anderen Zuhörer ergriffen und sprachlos war

„Zirkalon Basalon“ heißen diese Gespräche, „Gedenken im Wohnzimmer“, bei denen Zeitzeugen nachfolgenden Generationen mitgeben, was unter der Nazi-Herrschaft geschah. Diesmal ist Europaministerin Karoline Edtstadler mit ihrer Delegation und einigen Journalisten dabei – und sie ist so überwältigt und berührt von dem Erzählten wie alle anderen im Raum. Die soziale Initiative der meist privaten Wohnzimmergespräche findet seit zehn Jahren meist rund um den Holocaust-Gedenktag statt und soll der Entwicklung entgegenwirken, dass auch in Israel die moderne Gesellschaft und die Erinnerung an den Holocaust langsam auseinander driften.

Aliza Landau ist mit eineinhalb ins Ghetto gebracht worden. Sie wurde von der Mutter mit ihrem Bruder in einer dunklen Nacht über den Zaun geworfen, damit der Vater, der auf der Suche nach Familienmitgliedern war, mit ihr fliehen konnte.

Sie erlebte Versteckwechsel und dramatische Stunden („Unter dem Heuhaufen biss ich auf mein Taschentuch, wie’s mein Vater gesagt hat, denn wenn ich von den Deutschen mit der Heugabel getroffen würde und nur einen Laut gegeben hätte, hätten sie alle anderen auch entdeckt – und ich wurde getroffen“). Nach dem Massenmord im Wald gelangte Landau in ein Bauerndorf zu einer kinderlosen Familie, die sie aufnahm. Als die Russen kamen und die Deutschen vertrieben, wurde sie wie durch ein Wunder von ihrer Mutter gefunden. 1947 emigrierte sie nach Israel, gründete eine Familie, hat drei Kinder und sieben Enkel – „mein Triumph über den Nazismus“.

Holocaust-Überlebende: „Dann fielen die Schüsse und wir in die Grube“

Deborah Opolion und ihre Tochter Noa Rebecca erhielten aus der Hand von Ministerin Edtstadler die Staatsbürgerschaftsurkunde

„Wir haben uns geändert und zeigen, dass wir die volle Verantwortung übernehmen für das, was zwar nicht wir getan haben, aber was bei uns getan wurde“, sagte Ministerin Edtstadler bei anderer Gelegenheit, nämlich der Verleihung von Staatsbürgerschaften in Anwesenheit auch von Gesundheitsminister Johannes Rauch an acht Nachkommen von NS-Verfolgten in der österreichischen Botschaftsresidenz in Herzliya. Deborah Opolion, deren Vater einst mit einem Kindertransport nach Schweden und dann in die USA flüchtete und später mit seiner Tochter wieder fünf Jahre in Wien lebte, würde mit ihrer 19-jährigen Tochter Noa Rebecca lieber heute als morgen nach Wien ziehen („Ich liebe Wien“) – aber ihr Job und die Tochter im Armeedienst stehen dem gerade entgegen.

Schnitzeln und Semmeln

Yirmi Pinkus mit Sohn Noa bedauert nur, dass seine Großmutter die Verleihung der Staatsbürgerschaft nicht mehr erleben konnte. Sie war mit 16 vor dem Krieg aus Wien nach Palästina geflüchtet, „aber sie hatte keinen Hass“. Und er erinnert sich, dass „Österreich und die klassische Musik, Johann Strauß zu Hause immer in der Luft“ waren, ebenso die Liebe zu Schnitzeln und Kaisersemmeln. Kommendes Jahr will er den 60. Hochzeitstag seiner Eltern in Wien ausrichten, „Österreich, das ist sehr emotional, und der Traum, nach Österreich zu gehen, ist immer da“, sagt der Professor für Kunst an der Uni Tel Aviv.

Seit 2020 ist die Beantragung von Staatsbürgerschaften für Nachfahren von Verfolgten möglich. 14.000 positive Bescheide wurden schon erteilt, in Israel gab es 7096,  davon wurden 6019 überreicht.

Holocaust-Überlebende: „Dann fielen die Schüsse und wir in die Grube“

Österreichs Botschafter in Israel, Nikolaus Lutterotti (links), Gesundheitsminister Johannes Rauch, der in Israel an einer WHO-Konferenz teilnahm, und Europaministerin Karoline Edtstadler (rechts) und die Neo-Österreicher

In Haifa gab Edtstadler bekannt, dass Österreich die Übersiedlung des Jekkes-Museums über die Geschichte der deutschsprachigen Juden ins Hecht Museum an der Universität mit 100.000 Euro unterstützt (1,5 Millionen hat Österreich bereits für eine Kooperation mit der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem zugesagt). „Ein wesentlicher Teil unserer Nationalen Strategie gegen Antisemitismus ist die enge Zusammenarbeit mit internationalen Bildungseinrichtungen“, sagte Edtstadler, die am Montag eine hochrangige internationale Konferenz zur Bekämpfung von Terrorismus in Tel Aviv eröffnete und sich dabei vor allem dem Kampf gegen Antisemitismus auch in Österreich widmete.

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