Gehirnerschütterungen: Der harte Preis für den NFL-Traum
In jedem Spiel erleidet im Schnitt ein Profi eine Gehirnerschütterung. Dramatisch war es bei Quarterback Tua Tagovailoa, der gar nicht hätte spielen dürfen.
In jeder Saison der National Football League (NFL) gibt es einen Spieler, der das Thema Gehirnerschütterungen wieder ins mediale Rampenlicht bringt. In dieser Saison ist es Dolphins-Quarterback Tua Tagovailoa. Es waren verstörende Szenen im Spiel gegen die Cincinnati Bengals vor wenigen Wochen.
Tagovailoa setzte zum Wurf an, als ein Verteidiger auf ihn zustürmte, ihn bei den Hüften schnappte und mit Schwung (regelkonform) zu Boden donnerte. Dabei schlug der 24-Jährige mit dem Hinterkopf auf und blieb reglos auf dem Rasen liegen. Die Hände hielt er vor sein Gesicht, die Finger waren in alle Richtungen gestreckt – nur sein Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig. Nach einigen Minuten wurde er auf einer Trage abtransportiert. „Daran kann ich mich überhaupt nicht erinnern“, gestand der Spieler später.
„Er hätte heute gar nicht spielen dürfen!“, schrieben einige Fans verärgert in den sozialen Medien. „Manchmal müssen Spieler vor sich selbst geschützt werden. Die Dolphins haben Tua im Stich gelassen.“ Mit dieser Meinung waren die Fans nicht allein.
Fans sind verärgert
„Ihr solltet ins Gefängnis gehen, weil ihr ihn so kurz nach der Kopfverletzung im vorangegangenen Spiel wieder spielen lasst“, schrieb Christopher Nowinski, ehemaliger Footballspieler, Neurowissenschafter, Autor und Gründer der Organisation Concussion Legacy Foundation. Der 44-jährige Amerikaner beschäftigt sich seit Jahren mit den Langzeitfolgen von Gehirnerschütterungen und kritisierte bereits vor dem Spiel, dass Tagovailoa überhaupt in der Startaufstellung stand. „Dies ist eine Katastrophe. Betet für Tua. Feuert den medizinischen Stab und die Trainer!“
Laut Nowinski kommt es „in jedem NFL-Footballspiel durchschnittlich zu mindestens einer Gehirnerschütterung. Sportverbände sollten anerkennen, dass Kopfstöße CTE (Chronisch traumatische Enzephalopathie, Anm.) verursachen, und sie sollten die Öffentlichkeit nicht über die Ursachen täuschen, während Sportler sterben und Familien durch diese schreckliche Krankheit zerstört werden.“
Heimtückisch
Gehirnerschütterungen unterscheiden sich grundlegend von anderen Verletzungen, weil die Langzeitfolgen noch immer größtenteils unbekannt und bei jedem Athleten anders sind. Deshalb muss jeder auch individuell behandelt werden. Experten können nicht genau sagen, ob und in welchem Ausmaß Erschütterungen im Gehirn in 30-40 Jahren für das gefürchtete CTE verantwortlich sind. CTE ist eine heimtückische Erkrankung, weil bereits leichte Schläge auf den Kopf ausreichen können, die von Betroffenen meist gar nicht wahrgenommen werden.
Nach wie vor gibt es kein objektives Instrument, um eine Gehirnerschütterung zu erkennen. Manchmal treten Anzeichen einer Gehirnerschütterung in den ersten paar Sekunden auf (beispielsweise Gleichgewichtsstörungen) und verschwinden dann wieder. In anderen Fällen entwickeln sie sich über die nächsten zwölf bis 24 Stunden. Der Spieler schläft dann nicht gut oder fühlt sich emotionaler als üblich.
Was passiert im Gehirn?
Bei wiederholten Schlägen auf den Kopf gehen salopp gesagt Nerven kaputt – es kommt zu einer Degeneration des Hirngewebes. Dabei wird ein Protein („Tau“) freigesetzt, das sich anhäufen kann und später die Funktionen des Gehirns behindert. CTE kann bis jetzt nur nach dem Tod des Athleten im Gehirn festgestellt werden.
Ann McKee, Professorin an der Boston University, erforscht selbst CTE und ist entsetzt: „Es ist ein Elend. Nicht nur für die Athleten, sondern auch für die Familien und Freunde, die mit ansehen müssen, wie diese starken, athletischen Menschen vor ihnen verfallen. Das bricht einem das Herz.“
Gleichgewichtsprobleme, Bewusstseinsverlust, Schwindel, Übelkeit, Lichtempfindlichkeit und Kopfschmerzen gehören zu den kurzfristigen Folgen. Langfristig: Persönlichkeitsveränderungen, Sprach- und Gedächtnisstörungen, kognitive Einschränkungen und erhöhte Wahrscheinlichkeit für Alzheimer.
Zu oft ignorieren Athleten diese Anzeichen, weil sie nicht ausfallen wollen. In der NFL geht es um Milliarden, das wissen Spieler, Trainer, Ärzte und Fans. Noch immer wird zu wenig für die Gesundheit der Spieler unternommen. Joe Burrow, Quarterback der Bengals, gestand, dass er sich an ganze Spiele überhaupt nicht erinnern könne, obwohl Ärzte offiziell noch nie eine Gehirnerschütterung festgestellt haben.
In den vergangenen fünf Jahren wurde das Regelwerk der NFL angepasst. Harte Tacklings gegen den Kopf werden bestraft. Bei Spielen sind etwa auch Spezialisten im Stadion, die Gehirnerschütterungen frühzeitig erkennen sollen und Athleten während des Spiels untersuchen.
Für Nowinski ist das aber noch nicht genug: „Eine richtige Evaluierung der Gehirnerschütterung braucht acht bis zehn Minuten. Die Spieler kommen aber oft nach einer Minute wieder aufs Feld.“
Ungenaue Tests
Ein weiteres Problem ist, dass Spitzensportler trotz Gehirnerschütterung in der Lage sind, kognitive und körperliche Tests zu bewältigen, mit denen Gleichgewicht oder motorische Fähigkeiten überprüft werden. „Das Risiko für CTE hängt mit der Anzahl an Schlägen gegen den Kopf im Laufe der Jahre zusammen. Die NFL muss mehr finanzielle Unterstützung für die CTE-Diagnosen bei lebenden Spielern bereitstellen.“
Die NFL gab eine Richtlinie heraus, die es Spielern mit Koordinationsproblemen nach einer Gehirnerschütterung untersagt, wieder aufs Feld zurückzukehren. Eine positive Entwicklung, die für Tua Tagovailoa und viele vor ihm freilich zu spät kommt.
Kommentare