Harald Lange ist seit Jahrzehnten in Fußballstadien und den Treffs von Fanklubs unterwegs. Der Sportwissenschaftler forscht an der Uni Würzburg in Bayern über Fankultur insbesondere im Fußball. Auch die Ausschreitungen beim Wiener Derby vorige Woche sind an dem Fanforscher nicht vorbeigegangen.
Im Lichte seiner jahrzehntelangen Forschung zu Ultras, Fans und Fußballstadien sieht er Teile der getroffenen Maßnahmen kritisch. Er merkt aber auch an, dass die Szenen nach dem 343. Wiener Derby, die live im TV zu sehen waren, auch unter Fans kritisch gesehen werden.
Wenn man das Wiener Derby ansieht, hat man das Gefühl, dass in jüngerer Zeit die Stimmung aggressiver wird. Täuscht dieser Eindruck?
Ja, denn wenn man sich die Statistiken etwa über die Anzahl der Verletzten im Rahmen einer Saison in Deutschland anschaut, dann bleiben die seit einem Jahrzehnt etwa auf einem Niveau, obwohl gleichzeitig immer mehr Zuschauer in die Stadien strömen. Mit Blick auf die Polizeizahlen können wir ganz klar sagen, dass es kein Gewaltproblem in dem Sinne gibt. Doch es kommen immer mehr Einzelfälle vor. Aber in Summe gibt es keine Tendenz nach oben.
Inwiefern spielt Social Media eine Rolle?
Natürlich trägt Social Media dazu bei, dass sich auch Fans schneller vernetzen können, dass man bestimmte Strategien schneller absprechen kann. Aber gerade mit Blick auf das Wiener Derby, würde ich sagen, hat Social Media wenig mit dieser Gewalteskalation zu tun. Das ist mehr oder weniger spontan entstanden, hat sich hochgeschaukelt und wäre auch ohne Social Media in diese Richtung gelaufen. Manchmal wirkt Social Media als Verstärker, und zwar in den Minuten und Stunden danach. Und zwar dahingehend, dass die Bilder sofort um die ganze Welt gehen.
Sport Talk mit Fanforscher Harald Lange
Inwiefern ist es da ein Unterschied, ob die Dinge abseits des Stadions passieren oder auf dem Rasen, vor laufenden TV-Kameras, wie letzten Sonntag in Wien? Wird das von der Ultraszene anders wahrgenommen?
Auf jeden Fall. Dieses Derby wird ganz kritisch begutachtet. Insbesondere auch in der aktiven Fanszene, also nicht nur von den Ultras, sondern von allen aktiven Fußballfans. Da wird sehr kritisch gesehen, was da die die einzelnen Fans in Hinblick auf Grenzüberschreitungen gemacht haben. Der Einsatz von Pyrotechnik wird dabei kaum kritisiert. Aber Pyrotechnik, Böller, in die Zuschauermenge zu werfen – da sind sich alle einig. Das ist kontraproduktiv. Das hat im Fußball nichts zu suchen. Und das blockiert auch alle Initiativen für legalen Einsatz von Pyrotechnik. Denn wenn man solche Szenen hat, muss man sagen, dann ist das Zeug wirklich gefährlich, dann kann es Menschen verletzen. Und da besteht nun wirklich Handlungsbedarf.
Es heißt oft, es gebe einen gewissen Ehrenkodex in der Fankultur. Etwa, dass man Dritte oder insbesondere Kinder nicht gefährdet oder gewisse Regeln im Rahmen von Kampfhandlungen. Gibt es diesen Ehrenkodex wirklich oder ist das eine "urban legend"?
Nein, diesen Ehrenkodex gibt es tatsächlich. Der regelt in gewisser Weise, wie man sich prügelt, wie man sich begegnet, welche Fans man abziehen darf (Fanutensilien stehlen, Anm.) und welche nicht. Gewisse Aktionen sind völlig verpönt - als lächerlich, als schwach. Etwa das Werfen mit Pyrotechnik auf andere. Das geht einfach zu weit. Dieser Ehrenkodex spielt sich natürlich immer in einer aufgeheizten emotionalen Atmosphäre ab. Mit Blick auf diese Grundsituation ist es bemerkenswert, wie konsequent dieser Ehrenkodex unter Fans in der Regel eingehalten wird. Und deshalb ist es umso bedauerlicher, dass wir solche Szenen erlebt haben wie beim letzten Derby in Wien, wo sich einige - nicht alle - überhaupt nicht dran gehalten haben. Das ist ein massiver Schlag für die Fankultur. Und deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass man da besonnen reagiert, dass man das ganz gründlich analysiert und dass auch die Fans, die Fanorganisationen und Fanvertreter für diese Grenzüberschreitung glasklare Worte finden.
Die angesprochenen Fanvertreter sind der eine Akteur. Aber auch der Verein ist ein wichtiger Akteur in der Prävention solcher Situationen. Was kann der Verein tun?
Der Verein, der das Hausrecht hat, kann über dieses auch regeln, wer zu den Spielen zugelassen wird, wer Dauerkarten bekommt, wem man Stadionverbote aussprechen kann. Das sind alles probate Mittel, die in der Vergangenheit auch sehr gut gewirkt haben. Wobei aus der Emotionalität heraus oft lebenslanges Stadionverbot ausgesprochen wird, was nach meinem Dafürhalten eher kontraproduktiv ist.
Und was kann die Fanszene selbst tun, um sich da zu reinigen?
Mit Blick auf alles, was wir aus der Präventionsarbeit wissen, sind die Fans die wichtigsten Akteure. Wenn es also der Fankultur aus sich heraus gelingt, aufeinander zu achten, Ehrenkodex einzuführen und auch die Einhaltung des Ehrenkodex zu kontrollieren, dann ist das mit Abstand die allerbeste Fankultur. Und deshalb sollten Politik, Polizei und Vereine mit den Fans zusammen an diesem Thema arbeiten. Und da sehe ich die Entwicklung jetzt nach diesem Stadt Derby schon in die richtige Richtung laufen, weil die Fanorganisationen sich auch kritisch mit dem Fanverhalten auseinandergesetzt haben. Und genau an dieser Stelle müsste man aus meiner Sicht weiterarbeiten. Die beste Präventionsarbeit passiert aus der Kurve heraus mit Blick auf diesem Ehrenkodex, den Sie vorhin angesprochen haben.
Also, wenn der Präsident von Rapid Wien sagt, diese Hassbotschaften sollen sich in der Kurve selbst regeln, dann ist das nicht naiv, sondern das ist Ihrer Meinung nach die richtige Herangehensweise?
Ja, es ist sowohl naiv als auch die richtige Herangehensweise. Es gibt auch keine Goldstandards in der Lösung solcher Problemlagen. Wenn man die Gepflogenheiten der Fankultur seit Jahren verfolgt, dann wird man feststellen, dass das Stadion hinsichtlich des eigenen Rechtsempfindens ein Eigenleben hat. Bei gewissen Verschmähungen, Sprüchen und Bannern sprechen wir von einer Fußballfolklore, die ihre Relevanz nur im Stadion hat. Wenn jemand so ein Hassplakat in die Luft hält, dann muss man das relativieren. Das ist im Kontext Fußballspiel. Es hat im Kontext Stadion eine andere Bedeutung als an einem anderen Ort. Das ist historisch so gewachsen und das muss man relativieren können. Das sollte man nicht so auf die Goldwaage legen. Wohingegen Grenzüberschreitungen, die andere körperlich in Mitleidenschaft ziehen, Prügeleien, das Beschießen mit Pyrotechnik nichts mehr mit Fußballfolklore zu tun haben.
Nach diesen Ausschreitungen beim Wiener Derby wurde beschlossen, dass die nächsten vier Derbys ohne Auswärtsfans stattfinden. Besteht dann die Gefahr, dass dieses fünfte Derby erst recht aufgeladen ist?
Wir werden auch in fünf, zehn oder 20 Jahren wieder Derbys sehen, die aus dem Ruder laufen. Was ich jetzt bei dieser Strafe kritisch sehe, ist, dass man eine Kollektivstrafe ausgesprochen hat, die auch jene Fans betrifft, die sich völlig korrekt verhalten haben oder bei diesem Spiel gar nicht da waren - und beim nächsten Derby gern dabei gewesen wären. Ich glaube, da ist man in diesem Fall ein bisschen voreilig vorgeprescht. Eine harte Maßnahme macht sich natürlich gut. Aber mit Blick auf die Präventionsarbeit wirkt das unter Umständen sogar kontraproduktiv, weil eine neue Front aufgemacht wird. Wenn diejenigen, die jetzt nicht zum Derby dürfen, weil sie kollektiv bestraft werden, das als ungerecht empfinden, kann ich das nachvollziehen.
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