Reif: "Die Lust am Denkmalstürzen ist ausgeprägt"

Marcel Reif hatte viele Kontakte mit Franz Beckenbauer.
Mit 66 beendete er nach 30 Jahren den Job als Kommentator. Auch Franz Beckenbauer ist ihm natürlich kein Unbekannter. Differenzierte Ansichten zum Kaiser und andere kritische Bemerkungen.

Die Vorwürfe wiegen schwer. 6,7 Millionen Euro soll den Deutschen das "Sommermärchen 2006" wert gewesen sein. Franz Beckenbauer geriet in seiner Funktion als Chef des WM-Organisationskomitees in den Fokus von Ermittlern und Medien.

Zuletzt deckte der Spiegel auf, dass sich der 71-Jährige sein Ehrenamt mit 5,5 Millionen Euro bezahlen lassen habe. Kaiser Franz’ Thron wackelt seit den Enthüllungen. Marcel Reif kennt die Branche und Beckenbauer.

Er will weder dessen Ankläger noch sein Anwalt sein. Die Summen, die ihm eher Sorgen bereiten, sind jene, die für Fußballprofis hingeblättert werden. Marcel Reif über Beckenbauers Bescheidenheit, Ungerechtigkeiten und die blinde Liebe von Fans.

KURIER: Wann haben Sie zuletzt mit Franz Beckenbauer gesprochen?

Marcel Reif: Das ist jetzt sicher zwei Monate her.

Die Finanzaffäre zur WM 2006 und Beckenbauers Rolle, das war doch sicherlich ein Thema?

Null. Er hatte furchtbaren privaten Kummer. Sein Sohn ist gestorben. Und wenn ein Kind vor den Eltern stirbt, ist das gegen jede göttliche Ordnung. Das hat ihn fürchterlich getroffen. Und natürlich – und das ist jetzt spekulativ – auch die Diskussionen rund um seine Person.

Unabhängig davon, wie würden Sie Franz Beckenbauer charakterisieren?

Für mich ist er einer der bescheidensten, umgänglichsten, freundlichsten, verlässlichsten Menschen in der Branche. Ich kann Ihnen nur das hohe Lied singen. Eine große Persönlichkeit, als Fußballer, Trainer, Funktionär und vor allem als Mensch.

Reif: "Die Lust am Denkmalstürzen ist ausgeprägt"
Schön, aber wie passen die Enthüllungen über ihn da hinein, die jetzt publik gemacht wurden?

Sie holen mich jetzt auf ein Eis, das zu dünn ist. Dafür müsste ich in die hinterste Ecke eines Menschen schauen. Das kann ich nicht. Ich bin 66 Jahre alt, und mir ist nichts fremd. Ich halte alles für möglich und alles für unmöglich. Aber warum soll ich jetzt etwas annehmen? Es verbietet sich der Konjunktiv.

Sie schließen auch die Existenz der anderen Seite Beckenbauers nicht aus? Das Nachrichtenmagazin "Spiegel" berichtet immer wieder von Zahlungen, dubiosen Geldflüssen und widerspricht zuletzt der von Beckenbauer oft dargelegten Ehrenamtlichkeit seiner Tätigkeit ...Ich zweifle die Recherchen des Spiegel nicht an. Nicht im Geringsten. Aber mein Rechtsverständnis verbietet mir in Anbetracht eines anständigen Umgangs, Urteile zu fällen, ohne zuvor beide Seiten gehört zu haben. Sie werden mich auch nicht dazu bringen, dass ich mich zum Anwalt von Franz Beckenbauer aufschwinge. Noch viel weniger werden Sie mich zum Ankläger machen. Man muss die Fakten kennen, wenn man über die Ehre eines Menschen redet.

Aber es ist doch nicht mehr zu bezweifeln, dass es bei der WM-Vergabe nicht mit rechten Dingen zugegangen ist?

Halbwegs gesunder Menschenverstand sagt einem, dass es in einer Kultur des Bakschisch und Handaufhaltens bei der FIFA (dem Weltfußballverband, Anm.) nicht anders gegangen ist. Wer glaubt, die WM 2006 ist nur vergeben worden, weil die Deutschen so schöne blaue Augen haben, oder weil sie die beste Bewerbung abgegeben haben, der ist nicht nur naiv, sondern auch boshaft naiv, denn dahinter steht Heuchelei. Das ist mir zuwider. Natürlich gibt es auch die reine Lehre. Aber dann musst du sagen: Wir wollen die WM nicht. Es geht halt nicht ein bisschen schwanger, oder ein bisschen nass beim Duschen zu werden.

Beckenbauer ist abgetaucht und hat seither keine Interviews gegeben. War das klug?

So, wie ich ihn kenne, hätte ich mir das auch anders gewünscht. Es wäre mir lieber gewesen, er hätte laut und deutlich gesagt: Freunde der Sonne, wolltet ihr die WM? Ja. Hat sie euch gefallen? Ja. Dann bitte schleicht’s euch. Diese WM hat einen Imagegewinn für Deutschland gebracht, der mit einer Kampagne um einen dreistelligen Millionenbetrag nicht zu schaffen gewesen wäre. Erträge von bis zu einer halben Milliarde Euro sind erwirtschaftet worden, und dann kommt man mit diesen 6,7 Millionen Euro, die geflossen sein sollen?

Und den Menschen ist das egal?

Wollen wir eine WM, müssen wir bis zu einem gewissen Grad – jedenfalls nicht kriminell! – nach den Regeln spielen. Die Menschen wissen das. Also, lassen Sie uns 6,7 Millionen Euro zusammenlegen und wir kaufen uns auch eine.

Kann ich mir nicht leisten.

Ich besorg’ das Geld, dann machen wir zwei WMs und wir werden steinreich (lacht).

Personen auf hohen Positionen glauben, unantastbar und unverwundbar zu sein ...

Kann schon sein, halt’ ich nicht für ausgeschlossen. Ich kann in niemanden hineingucken. Wenn die Luft dünner wird, kriegt man manchmal Halluzinationen, hab ich gehört. Ich kann’s nicht beurteilen, ich bin nicht in der Psychoanalyse.

Umso schlimmer ist es, solche Positionen zu missbrauchen ...

Mich werden Sie erst zum Entrüsten und Empören bringen, wenn wirklich schlimme Dinge passiert und auch nachgewiesen sind. Unterstehen Sie sich nicht, das als Entschuldigung für Beckenbauer hinzustellen. Was ich sage: Er hat es zugelassen, war vielleicht auch geschmeichelt, zum Kaiser, zur Lichtgestalt zu werden. Vielleicht hat er auf dem Weg dorthin vergessen, dass er auch nur ein Mensch ist, obwohl er sich immer als solcher benommen hat. Ich weiß ja nicht, ob er seine Koordinaten verloren hat, das weiß ich nicht. Ich habe ihn immer anders erlebt. Aber ich bin wie gesagt 66, und mir ist es menschlich nicht fremd, dass man manchmal von Dingen mit- und fortgerissen wird.

Welche Rolle spielen dabei die Medien?

Medien gibt es solche und solche. Steht man in der Öffentlichkeit, muss man damit leben. Der Spiegel, die Süddeutsche machen ihren Job. Und warum sollten sie im Falle von Franz Beckenbauer unter den Tisch kehren, wenn sie etwas finden? Sauber recherchiert muss es sein. Daran habe ich keinen Zweifel. Nur die Schlüsse, die daraus gezogen werden und die Kommentare dazu – das geht mir zu schnell. Die Lust am Denkmalstürzen ist zuweilen zu ausgeprägt.

Bleiben wir beim Geld. Die Superstars verdienen Millionen, die Klubbudgets explodieren. Der Fußball verschlingt Unsummen. Sollte man dem einen Riegel vorschieben?

Wie wollen Sie das in einer freien Marktwirtschaft machen, wenn das Geld offenbar da ist und in einem Kreislauf von A nach B verschoben wird? Aber es stimmt schon, die Summen sind obszön, das kriegen Sie von mir schriftlich. Meine Frau ist Krebsärztin und operiert die ganz Woche und rettet Leben. Für das Geld, das sie verdient, kriegt man keinen Mittelfeldspieler für die dritte Liga. Die Lehre daraus? Tja, man kann den Kopf schütteln und fragen, ob das gut ist für das Produkt Fußball ...

... ist es nicht ...

... und alleine das Wort "Produkt" in diesem Zusammenhang kotzt mich schon an. Die Summen sind unfassbar, Summen, die ich meinen Söhnen, wenn sie einmal älter sind, nicht mehr erklären kann. Fußball wird uns alle überleben, habe ich immer geglaubt. An dieser Stelle beginne ich aber zumindest mit der Stirn zu runzeln. Jetzt zahlt man für einen Jungen, der noch nichts gewonnen hat, 105 Millionen Euro (der Franzose Paul Pogba, Anm.). Was muss man dann für Messi hinblättern? 250 Millionen?

Die Fans nehmen es großteils hin und investieren viel, um Spiele zu sehen. Eine Eigenart des Fußballs?

Der Fan geht ins Stadion, um seiner großen Liebe zu begegnen. Und der Fan ist blind vor Liebe. Ihm kann ich keinen Vorwurf machen.

Sie kommentieren keine Spiele mehr im TV. Bedeutet das mehr Genuss, Unterhaltung – oder kommentieren sie noch mit?

Das zu beurteilen, ist noch zu früh. Ich suche jedenfalls immer noch nach der kindlichen Freude bei einem Fußballspiel. Jeder, der mir das Kindliche nimmt, tut mir weh.

Also ist Fußball Ihr Leben?

Fußball hat mein Leben beeinflusst, meinen Alltag bestimmt und hat mir auch ein Leben neben dem Fußball ermöglicht. Er hat mich und meine Lieben ernährt. Und zwar sehr gut. Es ist eine große Gnade: Ich konnte einen Traum leben.

Ihre Pläne?

Ich bin Experte in der Sendung "Doppelpass" auf Sport1, gehe demnächst mit einem Kollegen auf eine Alm, um über ein Buch zu reden, das ich schreiben will, und ich werde auch auf einem Schweizer Privatsender als Experte zu sehen sein. Glauben Sie mir, die Arbeit geht mir nicht aus, ich muss eher gucken, dass ich die eine oder andere Kirmes weniger besuche.

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