„Spanien hat absolut überzeugt, weil sie anders spielen als früher. Sie können natürlich noch den Ball laufen lassen, spielen aber mehr nach vorne und haben eine immens gefährliche Flügelzange“, sagt Scharner. „Sie spielen nicht mehr so ausrechenbar“. So sieht es auch Thalhammer: „Jene Teamchefs, die ihr System und die Spielweise an die Schlüsselspieler anpassen, haben Erfolg. Besonders gut ist das bei Spanien und Deutschland zu sehen, wo Toni Kroos am liebsten halblinks abkippt, um den Spielaufbau voranzutreiben – und das unter Teamchef Nagelsmann auch darf.“
Vorgezogenes Endspiel im Viertelfinale
Scharner sieht „nach dem Drama von Wien im Herbst einen dringend nötigen Cut“ bei Deutschland: „Nagelsmann hat einige Routiniers verabschiedet und dafür Kroos zurückgeholt. Ich habe ja eigentlich auf Portugal getippt, aber jetzt finde ich es schade, dass die wieder überzeugenden Deutschen bereits im Viertelfinale gegen Spanien ranmüssen.“ Thalhammer seufzt: „Die beiden Mannschaften, die mich am meisten beeindrucken, treffen schon im ersten Viertelfinale aufeinander.“
Was ist es genau, was bei den Deutschen und Spaniern verändert wurde? „Ausgehend von südamerikanischen Klubmannschaften gibt es einen Trend, dass nur noch auf drei bis vier Positionen strikt zugeteilt ist, wo sie bei Ballbesitz zu spielen haben. Der Rest darf herumschwimmen. Genau das machen diese beiden Teams sehr gut und stellen die Gegner vor große Probleme.“
Scharner formuliert es als früherer Querdenker so: „Die Teamchefs geben ihren Besten die Kreativität zurück. Sie dürfen sich in der Offensive austoben. Defensiv müssen alle weiter diszipliniert bleiben, aber nach vorne ist zu meiner Freude wieder mehr erlaubt. Bei Österreich hat das besonders Posch gut gemacht.“
Das genaue Gegenteil erkennen beide Experten bei England: „Viele Stars, aber keine Idee mit dem Ball und ein viel zu statisches Spiel.“ Der Coach sieht „langweilige Engländer, die in ihrem strikten Positionsspiel altmodisch wirken und nicht ausstrahlen, was sie eigentlich vorhätten.“ Der frühere Dauerläufer moniert: „Warum dürfen Saka und Foden nicht rochieren, oder mal in die Mitte ziehen? Diese Engländer müssen unter Southgate so verkopft kicken, dass sie ihre Stärken nicht auf den Rasen bringen.“
Bei vielen Großen fehlt die Flexibilität
Weitere Beispiele für fehlende Flexibilität? „Eigentlich alle Großen, außer Spanien und Deutschland. Nur die Kleinen hatten diesen Mut und diese Unbekümmertheit, die es in einem Turnier braucht.“ Thalhammer zählt auf: „Auch Belgien und Italien wirkten weder wie ein echtes Team, noch so, dass ihr Trainer einen glasklaren Plan vermitteln hätte können. Ganz anders als Österreich unter Rangnick. Diese Klarheit mögen die Spieler.“
Der nächste Trend ist eine Fortsetzung der vergangenen Turniere: viele – und im Fall von Österreich – entscheidende Tore aus Standards. „Natürlich ist die Zeit für einen Teamchef eng begrenzt, aber ich bin der Meinung, dass immer noch zu wenig Trainingszeit in Standards investiert wird. Da wäre noch mehr möglich, etwa auch mit gezieltem Einwurf-Training. Liverpool ist da ein Vorreiter“, sagt Thalhammer.
Verwunderung im Österreich-Achtelfinale
Beide Experten wundern sich, dass ausgerechnet nach der Sperre von Standard-Experte Hakan Calhanoglu beide türkischen Tore gegen Österreich aus Eckbällen fielen: „Vielleicht war es auch in der Vorbereitung schwieriger, weil nicht klar war, ob die Ecken so wie von Calhanoglu geschossen werden. Aber dass zweimal eine beinahe idente Variante zu Gegentoren führt, sollte eigentlich trotzdem nicht passieren.“
Trend zu Weitschuss-Toren?
Auch der vierte und letzte Trend ist beiden Fachkräften unabhängig voneinander ins Auge gesprungen. In der Bewertung der vielen Weitschuss-Tore gehen die Meinungen aber erstmals deutlich auseinander. Thalhammer weiß: „Nur zwei von 100 Versuchen aus 18 Metern oder mehr mit Verteidigern im Weg werden zu Treffern. Trotzdem ist bei der EM der Anteil der Schüsse aus der Distanz unter allen Versuchen von 30 auf 40 Prozent gestiegen.“
Scharner ist begeistert: „Die Quote war ja so niedrig, weil die Generation der Laptop-Trainer kaum Weitschüsse wollte. Endlich werden die besten Schützen auch wieder in Position gebracht und – zack, es fallen auch viele Weitschusstore. Besonders gegen die vielen tief stehenden Verteidigungsblöcke ist das ein leichteres Mittel zum Erfolg, als sechs Verteidiger auf engem Raum auszuspielen.“
Thalhammer stimmt zwar zu, dass auffallend oft in einem massiven, tief stehenden Defensivblock verteidigt wird, aber ein Fan von Weitschüssen wird der 53-Jährige nicht mehr: „Ich glaube, dass das nur ein statistischer Ausreißer dieser EM bleibt und kein Trend wird. Weitschusstore werden im modernen Fußball eine Seltenheit bleiben.“
Zum Schluss gibt es noch einmal Einigkeit. Während bei früheren Endrunden öfters von den Kickern über unberechenbare Flugkurven der Bälle gejammert wurde, ist der EM-Ball offenbar ein Volltreffer: „Gut möglich, dass die Spieler auch deshalb so gerne schießen, weil sie merken, dass das mit diesem Modell besonders genau geht.“
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