WM-Start: Enormer Druck lastet auf dem russischen Team

WM-Start: Enormer Druck lastet auf dem russischen Team
Teamchef Stanislaw Tschertschessow über Erwartungen und Stimmung im Land, über seine Herausforderungen und die Favoriten.

Wer Stanislaw Tschertschessow die Hand schüttelt, der geht unweigerlich in die Knie. Könnte die russische Nationalmannschaft auf dem Rasen nur annähernd so viel Druck ausüben wie ihr Teamchef bei der freundlichen Begrüßung, der Gastgeber würde es wohl weit bringen bei der Heim-WM.

Die jüngsten Auftritte lassen freilich ernsthaft daran zweifeln, dass Russland dem Turnier fußballerisch einen Stempel aufdrückt. 0:1 gegen Österreich, 1:1 gegen die Türkei, von den letzten zehn Vorbereitungsspielen konnte das Team von Stanislaw Tschertschessow lediglich eines gewinnen. Die Auftaktpartie im Moskauer Luschniki-Stadion gegen Saudi-Arabien (17 Uhr, live ORFeins) ist daher bereits richtungsweisend. Es geht darum, ob Russland die Vorrunde überstehen und im Land eine Fußball-Euphorie entstehen kann.

Nur einer hegt wie immer keine Zweifel. Stanislaw Tschertschessow war schon als Torhüter nicht aus der Ruhe zu bringen. Auch als Teamchef wirkt er nun wie die Zuversicht in Person, nach außen zumindest. „Ich spüre keinen Stress. Es läuft alles wie immer.“ Stanislaw Tschertschessow über ...

… den Druck beim Heim-Turnier
„Der einzige Druck, den ich kenne, ist der Blutdruck. Ich weiß, was uns erwartet, das ist jetzt auch schon meine vierte Weltmeisterschaft, diesmal stehe ich halt nicht auf dem Platz. Trotzdem finde ich, dass es keinen großen Unterschied macht, ob du im Tor stehst oder auf der Bank sitzt: Da wie dort musst du Verantwortung tragen und darfst dir keine Fehler erlauben. Nur darum geht es.“

… die Erwartungshaltung der russischen Bevölkerung
„Es ist immer das gleiche: Von jeder Heimmannschaft werden Erfolge erhofft. Das war in Österreich 2008 bei der EURO nicht anders. Das ist die Vorgabe, uns ist klar, dass wir uns gut verkaufen müssen, damit im Land eine Euphorie entstehen kann. Mit dieser können wir dann im Idealfall unsere Bestleistungen abrufen.“

… die Stimmung in Russland
„Bei uns sagt man: Die Russen kommen langsam in Fahrt, aber dann dafür richtig, von null auf hundert. Das ist bei uns schon immer so gewesen. Wenn ich mich zum Beispiel zurückerinnere an die Olympischen Spiele 2014 in Sotschi oder den Confederations Cup im letzten Sommer: Bis eine Woche vorher hast du nicht das Gefühl gehabt, dass das überhaupt bei uns stattfindet. Und dann waren plötzlich alle Karten weg und die Stadien voll.“

… die Herausforderung im russischen Team
„Von der EM 2016 sind nur noch sieben Spieler dabei. Sicher hätten wir im Nationalteam schon vor Jahren einen Generationswechsel machen müssen. Den habe jetzt eben ich in den letzten 18 Monaten gemacht. Das ist so knapp vor einer WM sicher nicht ideal, aber es war ein notwendiger Schritt. Du bist als Teamchef immer auch abhängig von der Generation und den Spielern, das war in Österreich ja nicht anders. Nach Prohaska und Krankl gab es ein Loch, dann kamen Polster und Herzog, danach hat es wieder gedauert. Es gibt nur wenige Länder, bei denen ständig starke Spieler nachkommen. Die Größe eines Landes hat dabei überhaupt nichts zu sagen. Sonst müssten nämlich China und Indien alles gewinnen.“

… die sportlichen Ziele
„Ich will nur daran erinnern, dass Russland erst einmal bei einem Turnier die Gruppenphase überstanden hat, das war 2008 bei der EM in Österreich. In Wahrheit wollen alle 32 Teams jetzt einmal eines, nämlich die Gruppe überstehen. Und das ist schon schwer genug. Bei der Auslosung haben noch viele gemeint, dass wir eine leichte Gruppe hätten. Mit Ägypten hat damals noch keiner was anfangen können, jetzt kennt man Salah als Goalgetter von Liverpool, und jetzt wird den Leuten klar, dass das ein schwieriger Gegner ist.“

… das Leben als russischer Teamchef
„Ich bewege mich ganz normal in Moskau, aber natürlich werde ich sehr oft angesprochen. Das ist aber ein gutes Zeichen, denn das zeigt mir, dass die Menschen an unserer Nationalmannschaft interessiert sind. Ich höre mir auch die Kritik an, ich bin dafür da, Antworten zu geben. Das Land muss schließlich wissen, für welche Spieler es die Daumen drückt. Ich halte nichts davon, mich zu verstecken. Das Einzige, was ich habe, ist ein eigener Fahrer. Wer einmal in Moskau war, der weiß auch, warum. Du sitzt teilweise zwei Stunden im Auto, da nutze ich die Zeit zum Arbeiten und zum Telefonieren.“

… seinen persönlichen Zugang zur Heim-WM
„So ein Turnier musst du einfach genießen. Als Trainer, aber auch als Spieler. Wie willst du ohne Lächeln im Gesicht erfolgreich arbeiten? Du brauchst Leidenschaft und Begeisterung. Ohne das erreichst du erstens nichts, und zweitens kannst du ohne Feuer auch keine Leute führen.“

 … seinen Bezug zu Tirol
„Ich habe immer noch meine Wohnung in Rinn. Meine Tochter ist in Tirol geblieben, sie ist Architektin und unterrichtet mittlerweile an der Universität. Sie redet Tirolerisch und ist schon so lange dort, ich denke sie führt einen inneren Kampf, was sie ist.“

… die WM-Vorbereitung
„Wir haben absichtlich fast nur gegen Topteams gespielt, damit wir wissen, wo wir stehen. Jetzt kommt es auf uns an, wir müssen ein Zeichen setzen. Die Vorbereitung im Stubaital war gut, das war auch sehr wichtig, dass wir weit weg von Russland waren. Du kannst nicht die ganze Zeit an dem Ort und in dem Land verbringen, in dem du dann auch das Turnier spielen musst. Sonst fällt dir die Decke auf den Kopf.“

… seinen WM-Favoriten
„Mit Ausnahme von Deutschland habe ich alle Großen gesehen. Frankreich, Spanien, Argentinien, die waren schon richtig stark, aber die Brasilianer waren in meinen Augen noch eine kleine Stufe drüber. Die Brasilianer spielen jetzt auf einmal so europäisch und so unglaublich diszipliniert. Nach Ballverlust waren die im Raketentempo wieder hinten im eigenen Strafraum. Solche Turniere gewinnst du nur, wenn du Klasse und Disziplin hast. Und diese Mannschaft hat beides. Das erinnert mich ein bisschen an die WM 1994 in den USA. Dort war Brasilien unser Gruppengegner, und damals haben sie auch so diszipliniert gespielt. Und gute Einzelspieler, die ein Match entscheiden können, haben sie sowieso immer gehabt.“

… Torhüter im Trainergeschäft
„Es ist eine ganz einfache Rechnung: Auf dem Platz stehen 22 Spieler, und zwei davon sind Tormänner. Wer hat also mehr Chancen, Trainer zu werden? Das ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung. Ich will keinem Spieler einen Doppelpass vorzeigen, weil ich die Leute hole, die richtig Fußball spielen können. Man kann mir glauben: Über den Fußball weiß ich ein bisschen mehr als viele andere.“

Stanislaw Tschertschessow

Der Tormann
Stanislaw Tschertschessow (*2.9.1963) wurde bei Spartak Moskau (1984 – 1993) groß. Über Dresden wechselte er 1996 zum FC Tirol. Tschertschessow wurde in Russland und Österreich jeweils drei Mal Meister und stand bei drei WM-Endrunden im Tor.

Der Trainer
Westligist Kufstein war die erste Station, es folgten Innsbruck und die russischen Traditionsvereine Spartak und Dynamo Moskau. Mit Legia Warschau wurde er 2016 polnischer Meister. Nach der EM 2016 wurde er zum Teamchef von Russland bestellt.

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