Felix Gottwald: "Der Sport braucht eine neue Ausrichtung"
Felix Gottwald ist mit drei Goldmedaillen, einer Silber- und drei Bronzemedaillen der erfolgreichste Sportler der österreichischen Olympia-Geschichte. Dazu sammelte der Nordische Kombinierer elf WM-Medaillen und feierte 23 Weltcupsiege.
Heute berichtet der 44-Jährige in Vorträgen, Seminaren und Workshops von seinen Erfahrungen aus dem Spitzensport und schlägt die Brücke zu gesellschaftspolitischen Themen. Dabei nimmt sich Felix Gottwald nie ein Blatt vor den Mund.
Wie erleben Sie die Corona-Krise?
Ich denke, anfangs waren viele von uns in einer Art Schockstarre. Wir haben getan, was uns von der Regierung angeordnet wurde und sich in einem typisch von Angst und Furcht getriebenen Reaktionsmodus ausdrückt.
Ist das denn jetzt anders?
Zum Glück, ja. Ich versuche mich um ein objektives Gesamtbild zu kümmern, mir das eigenständige Denken nicht verbieten zu lassen, zu recherchieren und fundierte Wissenschaft zu konsumieren. Ich konnte so recht rasch in den Modus des Vertrauens und damit in den des Gestaltens zurückfinden.
Was ist Ihr Eindruck?
Leider ein viel zu einseitiger. Es steht außer Frage, dass wir im Sinne der älteren Generation und der viel zu vielen Vorerkrankten alles unternehmen, um diese zu schützen, um Leben zu retten und um unser Gesundheitssystem zu entlasten.
Das klingt nach einem aber.
Aber ich vermisse von Anbeginn an jene Haltung, die unterschiedliche Wahrheiten zulässt. Und ich vermisse so viele andere wesentliche Fragen: Was tun wir ab jetzt in unserem Land, damit wir als Gesellschaft gesünder und fitter werden und somit weniger Vorerkrankte haben? Ich vermisse es, jenen Muskel gemeinsam zu trainieren, der da heißt: Wofür ist das alles eine Gelegenheit? Ich vermisse echte Transparenz der Regierenden und die Auskunft, auf welcher Grundlage Entscheidungen getroffen werden. Beispielsweise die Turnstunden und den Musikunterricht reflexartig ersatzlos zu streichen ist schon wieder kein Lösungsansatz.
Wie könnte ein solcher ausschauen?
Unser
Bildungsministerium wäre gut beraten, sich für die Wiederaufnahme des analogen Unterrichts etwas einfallen zu lassen, das spannender ist als das Home-Schooling der letzten Wochen. Dass regelmäßige Bewegung oder Musizieren sowohl die Konzentration als auch das Lernen und auch das Gedächtnis fördert, ist wissenschaftlich belegt, wird aber ignoriert. Der Anspruch, nach Lösungen zu suchen, wie diese Turn- und Musikstunden als unvergessliches Erlebnis in und mit der Klasse samt Abstandsregel gestaltet werden können, fehlt mir.
Haben Sie einen Vorschlag?
Was spricht dagegen, die derzeit vielfach unterbeschäftigten kreativen Fitness-Coaches, YogalehrerInnen oder Gedächtnis-Trainer dafür zu engagieren – in echt und/oder online? Am Geld dafür kann es – da ja aktuell jeden Tag Geschenke in großem Stil gemacht werden – wohl nicht mangeln. Freistunden und Stunden, die nicht suppliert wurden, kenne ich aus meiner Schulzeit noch zur Genüge – und ja, es stimmt, auch ich habe die Schulzeit überlebt.
Wie haben Sie eigentlich die Ausgangsbeschränkungen erlebt?
Meiner Wahrnehmung nach hat sich dadurch sogar ein Bewegungs- und Gesundheitsbewusstsein zu entwickeln begonnen. Zum allerersten Mal ist das einem Sportminister gelungen, und das ganz ohne Spitzensport und mit anfänglich gar nur den Hundebesitzern vorbehaltener Bewegungserlaubnis. Seit Corona treffe ich Menschen in einer Regelmäßigkeit beim Spazierengehen und beim Sporttreiben, die ich zuvor nie dabei getroffen habe.
Was sagt uns das?
Es ist schon verwunderlich, wenn der Wert der Gesundheit von einem Tag auf den anderen durch mediale Aufmerksamkeit plötzlich jenen Stellenwert bekommt, den viele sich immer gewünscht haben. Der Preis, den wir alle gemeinsam für diese Form von Gesundheit bezahlen werden, ist noch nicht zu beziffern und wird uns wohl über Jahre begleiten. Gleichzeitig ist es unter diesen Umständen unvorstellbar, dass bei uns jahrzehntelang über ein Rauchergesetz diskutiert wurde. Ich denke, wir dürfen in Zukunft als verantwortungsbewusste Menschen keinen Unterschied mehr machen zwischen Corona-Toten, den jährlich 13.000 Menschen, die alleine in
Österreich an den Folgen des Rauchens sterben und viele davon als vorerkrankt in die Statistiken aufscheinen, und jenen Kindern, von denen weltweit immer noch alle zehn Sekunden eines verhungern muss, während sich in den OECD-Ländern Übergewicht und Fettleibigkeit längst zu einer ebenso tödlichen Seuche entwickelt haben.
Geht es nicht auch um
Eigenverantwortung?
Definitiv. Und an den Verordnungen haben wir gut erkennen können, wie viel Eigenverantwortung uns Bürgern tatsächlich zugetraut wird. Wenn mir unser Sportminister erklären will, welche körperliche Belastung meinem Immunsystem zuträglich ist, dann geht sich das für mich nicht aus. Glaubwürdigkeit bedingt Vorbild durch Vorleben. Ich hoffe, dass uns diese fehlende Eigenverantwortung jetzt beim Lösen der Einschränkungen nicht zum Verhängnis wird. Und ich hoffe ebenso, dass wir Menschen auch in Zukunft wieder frei und deshalb verantwortungsbewusst unsere Entscheidungen treffen können.
Was meinen Sie konkret?
Ich habe niemandem in der Regierung meine Stimme anvertraut, dass in der jetzigen Situation die Freiwilligkeit einer etwaigen Impfung gar nicht thematisiert wird. Vielmehr dürfen wir in fast erpresserischer Weise zuhören, wie die Weltbevölkerung so schnell wie möglich durchgeimpft werden soll – mit einem Impfstoff, den es noch gar nicht gibt. Mag sein, dass viele Menschen unreflektiert und schon wieder total verängstigt das über sich ergehen lassen würden. Ich gehöre nicht dazu. Auch deswegen, weil nur ich die Verantwortung für mich und meine Kinder übernehmen kann. Niemand anderer wird das je für uns tun. Nicht wirtschaftlich und nicht gesundheitlich – und das ist gut so.
Was ist die Alternative?
Gute Frage. Sich dieser Frage wahrhaftig zu widmen ist ab jetzt dran, und entsprechend werden wir unsere neue Zukunft gestalten. Stetige Gewinnmaximierung, Erfolg um jeden Preis und die „Hinter mir die Sintflut“-Haltung scheiden als Antwort hoffentlich endgültig aus. Für Lösungen, die das Gemeinwohl anstreben, sollte es besser heute als morgen einen Glücksfall-Fonds als Pendant zum Härtefall-Fonds geben. Ich bevorzuge Anreize, die das Gestalten und damit auch unsere Gesundheit und Vitalität fördern.
Ist diese
Krise möglicherweise auch eine Chance, dass in Österreich so etwas wie eine Bewegungs- und Sportkultur einzieht?
Wann, wenn nicht jetzt? Wir alle treffen ständig Entscheidungen, die sich auswirken. Im Bereich der Gesundheit nicht immer unmittelbar, aber dafür mit Gewissheit. Dabei die Menschen zu unterstützen und Rahmenbedingungen zu schaffen, die eine regelmäßige Bewegung und eine gesunde und ausgewogene Ernährung fördern, wird auch in Zukunft Leben retten, unser Gesundheitssystem entlasten und damit gesundes Wirtschaften ermöglichen. Wenn aber Fastfood-Restaurants die Ersten sind, die aufsperren dürfen, während Parkplätze für Einheimische und deren Bewegungseinheit an der frischen Luft gesperrt werden, erkenne ich leider jetzt schon einen Rückfall in alte Gewohnheiten. In Norwegen wurden beispielsweise die Loipen wegen Covid-19 so lange wie nur möglich präpariert. Tatsache ist: Bewegung und Aktivität sind wahrscheinlich der größte Beitrag, den wir für uns und auch für das Gesundheitssystem leisten können. Laut dem Rechtsmediziner Prof. Püschel hatten in Hamburg alle im Zusammenhang mit Covid-19 Verstorbenen zumindest eine Vorerkrankung. Davon litten etwa 80 Prozent der mehr als 140 Untersuchten unter Herz-Kreislauf-Erkrankungen.
Hat Ihrer Ansicht nach unser Wirtschaftssystem auch Auswirkungen auf unsere Gesundheit?
Ich habe mir im Dezember bei einer Sendung von Marianne Hengl mit dem Titel „Wenn Menschen an sich glauben“ – (wurde vor kurzem in ORF III ausgestrahlt) in Anwesenheit von Christoph Leitl, dem Präsidenten der Europäischen Wirtschaftskammern – erlaubt, zu sagen, dass die Wirtschaft einen Weg wird finden müssen, wie sie gesundschrumpfen kann. Nur das Wort „schrumpfen“ reichte bereits aus, um entsprechendes Unverständnis bei Leitl wahrzunehmen. In den letzten Wochen waren wir alle Zeitzeugen, als die Wirtschaft exponentiell geschrumpft ist. Ich behaupte, das hätten wir billiger haben können. Der vielzitierte Euro, der in die Gesundheit aller investiert wird, hätte aktuell wohl einen rekordverdächtigen Wechselkurs verzeichnet.
Lassen Sie uns zum Spitzensport wechseln, der im Moment stillsteht. Was für Auswirkungen hat die Corona-Krise auf diesen Bereich?
Alle Auswirkungen auf die Wirtschaft und auf uns als Gesellschaft finden sich auch in der Welt des Spitzensports wieder. Die Idee, „mehr ist besser als weniger“, ist jener Zweck, der bis jetzt scheinbar alle Mittel geheiligt hat. Ich bin überzeugt davon, dass jene Sportverbände, Sportarten und SportlerInnen, die gelebte und sinnstiftende Antworten auf die Frage „Was hat die Welt davon, dass es uns gibt?“ bieten, sich damit auch einen Auftrag für Spitzensport erteilen.
Wie fällt Ihre Antwort aus?
Wenn es dem Spitzensport wieder gelingt, uns Zuseher über den Aspekt der Unterhaltungsbranche hinaus in seinen Bann zu ziehen, weil wir diese kindliche Begeisterung an der Sache, an der gemeinsamen Entwicklung, am freudvollen und gesunden Erfolg beobachten, spüren und teilhaben können, dann bekommt die wichtigste Nebensache der Welt wieder Substanz. Dann rücken die Kernbotschaften des Sports und die Art, wie Sport gelebt wird, wieder in den Vordergrund. Wenn sich dann wieder die Werbeeinschaltungen am Sport orientieren und nicht der Sport an den Werbeeinschaltungen, dann steigt die Glaubwürdigkeit, die den Sport an der gesunden Basis auszeichnet. Dem Spitzensport, uns als Gesellschaft und der Wirtschaft wird es guttun, sich neu zu erfinden. Eine in Aussicht gestellte Impfpflicht als Bedingung für die Teilnahme an
Olympischen Spielen wird schnell zeigen, wer für den Erfolg bereit ist, alles zu tun oder eben nicht bei allem mitzutun.
Liegt die Chance des Spitzensports Ihrer Meinung nach also darin, Verantwortung zu übernehmen und diese vielzitierte Vorbildfunktion mehr denn je zu leben?
„Wo Recht zu Unrecht wird, wird Widerstand zur Pflicht, Gehorsam aber Verbrechen!“ Diese Worte, die Papst Leo XIII. aus dem 19. Jahrhundert zugesprochen werden, haben mich dieser Tage berührt. Unsere Talente sind auch unser Auftrag, und den gilt es auf und abseits der Bühne des Sports so gut es geht anzunehmen und weiterzuentwickeln. Ein Team, das füreinander da ist, wächst mit den Herausforderungen mit. Ich würde mir von Herzen wünschen, dass wir uns in Zukunft als Gesellschaft am Spitzensport orientieren können, weil uns dieser vorlebt, was möglich ist, wenn wir uns selbst treu bleiben und Schritt für Schritt einen Weg gehen, auf den wir rückblickend stolz sein können. Ich gebe diese Hoffnung an den Sport und an uns als Gesellschaft nicht auf und bleibe in Bewegung.
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