"Dem Sport droht eine Materialschlacht"

"Dem Sport droht eine Materialschlacht"
Gutachter und Experte Brüggemann über den WM-Start des beinamputierten Sprinters Pistorius und das laufende Unikat Bolt.

Er war dafür verantwortlichen, dass der Traum von Olympia 2008 des beinamputierten Sprinters Oscar Pistorius zunächst platzte: Das Gutachten von Professor Gert-Peter Brüggemann, Leiter des Institutes für Biomechanik und Orthopädie an der Sporthochschule in Köln, kam zu dem Schluss, dass der Südafrikaner mit seinen Karbon-Prothesen einen Vorteil gegenüber der nichtbehinderten Konkurrenz habe.

Heuer qualifizierte sich Pistorius für die WM, Millionen werden am Sonntag seinen 400-m-Lauf verfolgen - darunter Professor Brüggemann.

KURIER: Herr Professor, was erwarten Sie von Pistorius bei der WM in Südkorea?
Gert-Peter Brüggemann: Er wird körperlich fitter sein als 2007 im Rom, wo er erstmals ein Rennen mit nichtbehinderten Athleten bestritten hat. Eine viel bessere Zeit als das WM-Limit halte ich aber für nicht sehr wahrscheinlich.

Im Zuge des Gutachtens haben Sie mehrere Tage mit Pistorius zusammengearbeitet. Wie war die Kooperation?
Es war ein tolles Arbeitsverhältnis. Er geht mit seinem Handicap souverän um. Eines sollte man hervorheben: Er ist dem Institut und mir in keinster Weise böse. Wir haben ihm sogar Tipps gegeben, wie er seinen Lauf verbessern könnte.

"Dem Sport droht eine Materialschlacht"

Was war Ihre Aufgabe?
Wir sollten ermitteln, inwieweit sich das Laufverhalten und das Verhalten der Prothese bei hohen Geschwindigkeiten verändern. Pistorius wurde dabei mit gesunden Läufern verglichen, die ein ähnliches Leistungsvermögen haben wie er.

Und das Ergebnis?
Er war schneller als die Vergleichsläufer. Wenn der Mensch - egal, ob trainiert oder weniger trainiert - in hohen Geschwindigkeiten läuft, verliert er im Sprunggelenk etwa 50 Prozent der absorbierten Energie. Eine Karbon-Prothese verliert nur zehn Prozent, weil die Karbonfeder nicht auf Muskeln angewiesen ist und die gespeicherte Energie mit der richtigen Frequenz wieder an den Körper freigegeben wird. Dazu kommt, dass Muskeln ermüden - die Prothese jedoch nicht.

Der CAS urteilte, Ihr Gutachten habe keinen Gesamt-Vorteil für die Strecke nachgewiesen.
Das war nicht unsere Aufgabe. Man müsste dafür alle Faktoren einbeziehen.

Eine komplexe Aufgabe ...
Richtig. Um den gesamten Vorteil zu bemessen, müsste man miteinbeziehen: den Start, das Kurvenlaufen, die Beschleunigungsphase und psychologische Effekte.

Psychologische Effekte?
Zum einen ist es nicht ganz ungefährlich, neben einem Läufer mit einer solchen Prothese auf den engen Bahnen zu laufen. Und zum anderen sollte man den Aspekt nicht vernachlässigen, was es für einen gesunden Athleten bedeutet, sich mit einer Person mit einem offensichtlichen körperlichen Handicap zu messen.

Muss die Sportwelt in Zukunft mit einer Flut an Gutachten rechnen?
Im Bereich der gesunden Athleten könnte die Leichtathletik ein Problem bekommen, da auch der nichtbehinderte Athlet versuchen könnte, sich mit technischen Hilfsmittel einen Vorteil zu verschaffen.

Ein Beispiel, bitte ...
Verboten sind Federn in den Schuhen, nicht aber elastische Sohlen. Technisch ist da nicht viel Unterschied. Die Grenzen sind unscharf.

Stichwort Techno-Doping: Gefällt Ihnen der Begriff?
Er ist plakativ, trifft aber im Kern die Sache. Sollten nicht etwa im Bobsport alle im gleichen Gerät den Eiskanal hinunterfahren?

Auch die Entwicklung des Sportgeräts könnte als Leistung verstanden werden.
Schon. Aber es wird hier nur der Athlet beurteilt und nicht der Ingenieur.

Bedeutet die Materialschlacht eine reale Gefahr?
Die Regeln und deren Auslegungen im Sport der Gesunden haben bisher die Kontrollfunktionen erfüllt. Allmählich erkenne ich, dass eine Materialschlacht droht.

Wie weit geht ein gesunder Sportler für den Erfolg?
Diese Frage höre ich oft. Genauso wie jene, ob sich Athleten die Sehnen versteifen lassen würden, um eine bessere Kraftübertragung zu erzielen. Wir sehen beim Doping, dass Sportler fast alles für den Erfolg tun.

Welche Zeit halten Sie für den menschlichen Körper über 100 Meter für möglich?
Ich würde mich nicht trauen, eine Prognose abzugeben. 1960 lief Armin Hary auf Asche 10,0. Danach dauerte es Jahrzehnte, bis mit Usain Bolt eine Glanzfigur da war, die nicht mehr mit den 10,0 spielte, sondern mit 9,7. Bolt scheint ein biomechanisches Unikat zu sein.

Wegen seiner Anatomie?
Nicht unbedingt. Meine Hypothese ist, dass seine Ausnahmestellung stark mit seiner Gewebestruktur zusammenhängt und den biomechanischen Eigenschaften der Muskel-Sehnen-Einheiten. Deswegen ergibt sich dieser einzigartige Laufstil.

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