Der Wahnsinn ist zurück! 3.000 Menschen füllen die legendäre Halle "Ally Pally" in London, bunt, schrill verkleidet, oft alkoholisiert. "Onehundredandeighty" brüllt der Shouter – und 3.000 brüllen mit. "Die Fans sind alles, was dieses Spiel braucht. Es ist nicht das gleiche ohne die Fans, deshalb ist es großartig, dass sie zurückkehren", sagte Phil Taylor, der Rekord-Weltmeister im Darts.
Anderer Meinung ist Mensur Suljovic. "Am liebsten spiele ich ohne Zuschauer", sagt er. Obwohl der gebürtige Serbe, der seit Anfang der 1990er in Wien lebt, schon seit Jahren zu den besten Dartsspielern der Welt zählt, ist er bei großen Turnieren "wahnsinnig nervös". Er lasse sich vor allem vom Publikum ablenken. Raymond van Barneveld, einer der Top-Stars der Szene, spielt daher schon seit Jahren immer wieder mit Ohrenstöpseln. Der Niederländer gab nach zwei Jahren sein WM-Comeback. Nach dem 3:0 gegen Lourence Ilegan sagte er: "Ich denke, dass ich sie rausgeben werde, um die Atmosphäre besser einschätzen zu können. Denn das Publikum ist fantastisch."
Stellt sich die Frage, warum darf beim Darts gebrüllt werden, und bei einem vergleichbaren Sport wie Billard ist ein leises Finger-Schnippen der euphorischste Ausdruck der Begeisterung?
Brüllende Golfer?
Der Sportsoziologe und Universitätsprofessor Otmar Weiß hat die Erklärung: "Alles hängt zusammen mit der Sozialisation und dem Habitus, also den Umgangsformen, dem Verhalten und den Gewohnheiten einer Person."
Wer inmitten singender Fußballfans aufwächst, wird unweigerlich das Verhalten akzeptieren und annehmen. Wer auf einem Golf- oder Tennisplatz Zeit verbringt, wird mit der "Quiet-please-Etikette" sozialisiert. Brüllende Golfer? Gibt es nicht!
Die „guten Sitten“
Weiß erklärt, dass die soziale Schicht eine wichtige Rolle spiele und das Verhalten von Menschen und Zuschauern beeinflusse. "In der oberen sozialen Schicht gibt es einen Kodex der guten Sitten." Hier werde von klein auf gelernt, Emotionen im Griff zu haben, spontane Reaktionen zu vermeiden und sich kontrolliert zu artikulieren.
Sportarten der Oberschicht haben oft einen Naturbezug und sind meist Individualsportarten. Körperkontakt wird vermieden, Distanz bewahrt. "Sie wollen auch nicht diesen Lärm wie im Fußball oder im Boxen – das sind Unterschicht-Sportarten, da ist der Körperkontakt im Vordergrund. Aber natürlich vermischt sich das manchmal", erklärt Weiß.
Mischformen erlebt man in der Leichtathletik. Vor einem Sprintstart herrscht völlige Stille, doch nach dem Startschuss peitschen die Anfeuerungsrufe Athleten ins Ziel. Zuschauer im Rugby begeistern mit einer ausgelassenen Stimmung, außer beim Kick, da wird es sogar im größten Stadion plötzlich still. Völlig anders hingegen im Basketball, wo Fans beim Freiwurf ein lautstarkes Spektakel hinter dem Korb veranstalten. Während Unterbrechungen wird zudem laute Musik gespielt, die sofort abbricht, wenn das Spiel weitergeht. Im Handball, Eishockey und Volleyball zeigt sich ein ähnliches Bild.
Wie viel Lärm ist noch gesund? Der deutsche Nationalspieler Timo Werner musste bei einem Fußballspiel ausgewechselt werden, weil er den Lärm der Besiktas-Fans nicht mehr aushielt.
Lautstärke-Rekord
Wie laut es im Stadion werden kann, zeigten die Fans bei einem Football-Heimspiel der Kansas City Chiefs. Mit 142,2 Dezibel schafften sie sogar einen Eintrag ins Guinness Buch der Rekorde. Interessant beim Football: Hier feuern die Fans das eigene Team nur in der Defense an. Ist die eigene Offense auf dem Feld, ist es eher ruhig, damit die Spieler besser kommunizieren können.
Zusammengefasst: Sportarten mit sehr lautem Publikum werden eher den unteren Gesellschaftsschichten zugeordnet. "Sie artikulieren spontan und unverblümt", sagt Weiß. Wie auch die Zuschauer bei der aktuellen Darts-WM. Ein Verhalten, das im "Ally Pally" seit Jahren zum guten Ton gehört.
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