Vranitzky: Wehrpflicht vorläufig erhalten
Franz Vranitzky, international bekannter Elder Statesman, verlangt die Vereinigten Staaten von Europa. Innenpolitisch kritisiert er den U-Ausschuss und rät zum Aufbau eines europäischen Sicherheitssystems. KURIER: Herr Doktor Vranitzky, neben der Finanzkrise steckt die EU in einer politische Krise. Warum?Franz Vranitzky: Es wird keine Europapolitik gemacht. In Österreich gibt es seit 2000 keine sichtbare Europapolitik. Die Bürger werden nicht bei der Weiterentwicklung des europäischen Projektes mitgenommen. Die Politik versagt in der Kommunikation, in der Überzeugungsarbeit und im Auflehnen gegen dilettantische, populistische Oppositionspolitiker. Kanzler Faymann ist doch leidenschaftlicher EU-Politiker geworden. Glaubwürdig? Faymann ist einer der ganz wenigen Glaubwürdigen. Er geht einen richtigen Weg. Versagt auch die EU? Ja. Die Bürger erwarten von der EU und ihrer Finanzgebarung Transparenz. Sie wissen nicht, was mit dem Geld passiert und gehen auf Distanz zur EU. Aufklärung ist politische Bringschuld. Wie soll das Geld sinnvoll eingesetzt werden? Seit 2008 heißt es: sparen, sparen, sparen. Es gibt kaum Initiativen für expansive Maßnahmen. Im Zentrum der derzeitigen EU-Budgetverhandlungen scheinen nur Landwirtschaft und regionale Entwicklung zu stehen. Was ist die EU-Zukunft? Europa steht in einem Wettbewerb mit den USA und Asien. Wir dürfen uns nicht damit begnügen, dass Japaner und Chinesen nur unsere historischen Stätten bewundern, große Forschungsergebnisse aber an uns vorbeigehen. Gemeinsam weiterkommen heißt auch Souveränität auszutauschen, nämlich die nationale gegen eine starke gemeinsame Souveränität. Das Ziel ist eine europäische Regierung.Läuft Europa Gefahr, ein musealer Raum zu werden? Nicht auszuschließen.
Schafft es Griechenland? Das ist das Ziel. Sparen und eine längere Sanierungsphase sind unvermeidlich, ohne allerdings so weit zu gehen, das soziale Gefüge zu zerstören. Übrigens gilt für alle Krisenstaaten: Wenn es uns nicht gelingt, die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist alles andere sinnlos. Rassismus und Antisemitismus nehmen zu. Was kann man dagegen tun? Die Geschichte zeigt, dass wirtschaftliche und soziale Verwerfungen zu totalitären Machtansprüchen führen. Es gibt Menschen, die unter dem Existenzminium leben, gleichzeitig werden Chefetagen mühelos Traumgehälter gezahlt. Gerechtigkeit ist einzufordern. Was zuletzt die antisemitische Karikatur anging, so wurde sie von zu vielen Spitzenpolitikern einfach hingenommen. Ein schlimmes Zeugnis. Wie bewerten Sie das jähe Ende des Korruptionsuntersuchungsausschusses? Der U-Ausschuss ist kein Exklusivklub lammfrommer Wahrheitsfinder. Es gibt immer Abgeordnete, die in Lauerstellung sind, bloß um den politischen Mitbewerber mit Anzeigen einzudecken. Caps Strategie, der Vorladung Faymanns nicht zuzustimmen, ist plausibel. Er setzt das Koalitionsabkommen ein. Auch ÖVP-Abgeordnete halten sich daran. Was raten Sie Faymann in der Inseraten-Affäre? Kühlen Kopf zu bewahren.
Wird die Volksbefragung über die Zukunft des Bundesheeres eine Art Ersatzwahl? Das kann sein. Wofür sind Sie? Man könnte den großen Wurf wagen. Was hindert Österreich, Allianzen zu suchen und für eine Verteidigungspolitik auf europäischer Basis einzutreten. Dann ist die ganze Debatte nicht auf Katastrophenschutz und Zivildienst reduziert. Bevor es ein solches Konzept nicht gibt, rate ich von der vorschnellen Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht ab, die klaglose Rekrutierung bleibt fraglich. Gelingt es, die Zahl der Systemerhalter radikal zu kürzen, den Grundwehrdienern eine interessante Ausbildung zu geben mit der Aussicht auf eine sinnvolle Verwendung als Zeitsoldat wird die Heereszeit nicht als verlorene Zeit empfunden werden. Wie schätzen Sie die Chancen von Stronachs Partei ein? Ich habe mit Stronach lange gut zusammengearbeitet. Während meiner Amtszeit als Bundeskanzler war er Mitglied meines internationalen Beratergremiums. Als Aufsichtsrat von Magna International ging es mir um die Absicherung der Magna-Standorte in Europa und Österreich. Mit Stronachs politischen Äußerungen freunde ich mich nicht an. Die Meinungsforschung erklärt die vorläufige Zustimmung zu seiner Partei als Reaktion auf mangelndes Vertrauen in die etablierten Parteien.
Franz Vranitzky: Banker und Politiker
Geboren 4. 10. 1937 in Wien. Karriere WU-Studium (Dkfm., Dr.). Topfunktionen in Banken. 1984 Finanzminister. 1986– 1997 Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzender. Politisch hielt er Distanz zu Jörg Haider. Er widersprach der "Opferthese" und bekannte 1991 die Mitschuld Österreichs am Nazi-Regime und Holocaust. Vranitzky führte Österreich in die EU. Er ist Träger des internationalen Karlspreises.
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