Tag der Kinderrechte: "Wollen Individuen"

Tag der Kinderrechte: "Wollen Individuen"
Diese Woche wird erstmals der Kinderschutzpreis vergeben. Initiatorin Fasslabend und Jurymitglied Hengstschläger im Interview.

Das Thema bewegt. Der sonst sehr sachliche Leiter des Instituts für Medizinische Genetik der MedUni Wien, Univ.-Prof. Markus Hengstschläger diskutiert lautstark. Martina Fasslabend, Präsidentin der Kinderschutzzentren "die möwe", haut auf den Tisch. - Ein hitziges Gespräch in Hengstschlägers Büro. Der Professor hat zwei Kinder im Alter von 15 und 13. Martina Fasslabends Kinder sind schon 21 und 23. Heute, Sonntag, ist der Internationale Tag der Kinderrechte.

KURIER: Wissen Sie, dass es in Wien einen "Platz der Kinderrechte" gibt?
Martina Fasslabend:
Nein. . .
Markus Hengstschläger: Ich hoffe, es gibt nicht nur einen, sondern Tausende! Wo ist der?

20. Bezirk, Ecke Dresdnerstraße/Winarskystraße. Die Kinderrechte haben einen Platz, aber keiner weiß es - ist das bezeichnend dafür, wie Kinderrechte wahrgenommen werden?
Fasslabend:
Kinderrechte und Kinder an sich! Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Der Begriff Kind als eigenständige, wertgeschätzte Person existiert in unserem Sozialstaat nicht. Wir haben Interessenvertretungen und Kammern für alle möglichen Bevölkerungsgruppen. Aber wer vertritt die Kinder?

Sie betonen, Kinder sind keine kleinen Erwachsenen. Wäre es demnach nicht unsinnig, einfach nach den Regeln der Erwachsenen eine Kindergewerkschaft zu gründen?
Fasslabend:
Warum nicht?
Hengstschläger: Eine Gewerkschaft für Kinder? Machen wir das! Kinder müssen sich ständig die schlechtesten Argumente der Welt anhören: "Das war schon immer so!" Und: "Ich bin älter als du!" Glauben Sie wirklich, dass das, was ein 50-Jähriger sagt, immer klüger ist, als was ein 10-Jähriger sagt? Ich nicht unbedingt.

"Kinder an die Macht!" Was sagen Sie dazu?
Hengstschläger:
Ich bin überzeugt, Kinder sind viel mehr an der Macht, als manche ahnen. - Und es ist eine sehr gute Nummer von Herbert Grönemeyer (schmunzelt). Menschen, die glauben, dass Kinder nicht an der Macht sind, sind Illusionisten. Aus einem einfachen Grund: Kinder sind unser einziges Kapital. Haben wir Öl oder billige Arbeitskräfte? Die Kinder sind das Einzige, worauf Österreichs Zukunft aufbauen kann. Kinder sind das Förderungswürdigste, was es auf der Welt gibt.

Wieso haben Sie den Kinderschutzpreis MYKI ins Leben gerufen?
Fasslabend:
Weil wir eine Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Bedürfnisse der Kinder brauchen. Wir haben in nur acht Wochen 120 Einreichungen bekommen. Es gibt da draußen viele Menschen und Initiativen, die sich um die Gesundheit, den Schutz und die Talentförderung unserer Kinder bemühen.
Hengstschläger: Und MYKI bittet genau die vor den Vorhang. Diese Menschen würden das auch ohne einen Preis tun, aber mit dem MYKI-Preis wissen viel mehr Menschen davon.

Tag der Kinderrechte: "Wollen Individuen"

Frau Fasslabend, was hat bewirkt, dass Sie sich seit Jahren vehement für Kinder einsetzen?
Fasslabend:
Ich bin von meinem Beruf her Pädagogin und habe lange unter dem Stillstand in der Entwicklung der Schule gelitten. Ich hab' die Hilflosigkeit der Lehrer
gespürt, oft auch Ahnungslosigkeit. Und auf der anderen Seite die Bedürftigkeit der Kinder. Dieser Zwiespalt hat mich zunehmend empört.

Herr Professor, können Sie drei Gründe nennen, warum Sie, als nüchterner Wissenschaftler, für ein so emotionales Thema wie Kinderrechte eintreten?
Hengstschläger:
Fünf! Fünf Gründe! Die ersten drei haben mit Gesundheit zu tun. Erstens: Wir sind hier am Institut für Medizinische Genetik der MedUni Wien. Zu uns kommen Kinder, die mit schweren Erkrankungen geboren wurden, und die Eltern wollen wissen, was ihr Kind hat. Wir sprechen dabei zwar von "seltenen Erkrankungen", aber in Summe sind es Tausende Fälle. Und die können oft nicht beforscht werden, weil das Geld fehlt. Zweitens: Wir brauchen spezifische Daten für die Therapien von Kindern. Pharmazeutische Studien werden nicht an Kindern durchgeführt. Das heißt: Wie verschreibt man einem Kind ein Medikament? Man nimmt eines für Erwachsene und dividiert durch die Kilo. Das ist Unsinn! Ein Kind ist kein kleiner, leichter Erwachsener. Kinder haben ein Recht auf die richtige Therapie! Drittens: 90 Prozent aller Erkrankungen beginnen im Kindesalter. Jedes dritte Kind in Österreich ist übergewichtig! Nicht weil es mit genetischen Anlagen für Fast Food auf die Welt kommt, sondern weil die Eltern sagen: "Es ist mir wurscht." Die Eltern brauchen Unterstützung und Aufklärung. Denn sie glauben, dass sie dem Kind im Moment des Handelns was Gutes tun, weil das Kind sagt: "Super, die Schoko ist besser als der Apfel."

Wie handeln Sie als Vater in der Situation?
Hengstschläger:
Ich sag' meinen Kindern, dass das ungesund ist. Kindererziehung funktioniert nur über den Umweg des Verständnisses, nie über: "Ich verbiete dir!". Wenn ich meinem Kind erklären will, warum es nicht rauchen soll, muss ich mich mit ihm intensiv auseinandersetzen, das braucht Zeit und Energie. Da kann ich nicht sagen: "Wenn i di beim Rauchen erwisch, kriegst a Ohrfeig'n!"
Fasslabend: So ist es, keine Verbote! Erziehung ist Knochenarbeit, manchmal sogar total erschöpfend. Erziehung ist das Komplizierteste überhaupt, und genau deshalb brauchen Eltern Unterstützung!
Hengstschläger: Da gehören Prophylaxe-, Betreuungs-, Aufklärungsmaßnahmen flächendeckend eingeführt. Eltern haben ein Recht auf Unterstützung, im Namen ihrer Kinder.

Tag der Kinderrechte: "Wollen Individuen"

Zurück zu Ihrem Beispiel mit dem Rauchen. Was machen Sie, wenn Sie bemerken, dass Ihr Kind trotzdem raucht?
Hengstschäger:
Gar nichts. Das Thema ist erledigt. Eine 100-Prozent-Trefferquote gibt es nie. Mein Wunsch ist ja nicht, dass das Kind nicht raucht, weil es Angst vor den Eltern hat.

Mit welchen Konsequenzen müssen Ihre Kinder bei Fehlverhalten rechnen?
Hengstschläger:
Die härteste Konsequenz ist, dass ich auf das Kind einrede und einrede, das ist schon das Brutalste.
Fasslabend: Kinder kommen ja nicht als destruktive Wesen zur Welt, die wollen ein gutes Auskommen. Und man kann ihnen klar machen, dass eine Grenze bei einem selber erreicht ist: "Aus. Stopp."

Wie haben Sie reagiert, wenn Ihre Kinder Sie an Ihre Grenzen gebracht haben?
Fasslabend:
"Es reicht!" (Schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch, die Tassen klirren.) Wenn's sein musste, hab ich auf den Tisch gehaut: "Es reicht! Keinen Schritt weiter! Ich erkläre später warum!"
Hengstschläger: Genau! Nicht im Affekt, sondern zuerst auf einen ruhigen Level kommen.

Wo beginnt Gewalt gegen Kinder?
Fasslabend:
Überall dort, wo ich ihre Bedürfnisse mit Füßen trete.
Hengstschläger: Ich sage, Gewalt ist all das, was ohne sinnvollen Hintergrund eine Einschränkung des Kindes ist.

Das könnte so interpretiert werden, dass Sie aus Kindern kleine Tyrannen machen wollen.
Fasslabend:
Nein. Denn von welchen Bedürfnissen reden wir denn hier? Von Bedürfnissen, die schon das allerkleinste Wesen massiv hat: Das sind Schutz, Vertrauen und Zuwendung. Wir bemerken bei Kindern verstärkt eine Unterversorgung im emotionalen Bereich!
Hengstschläger: Und im intellektuellen Bereich.

Herr Professor, Sie haben von fünf Gründen für Ihr Engagement gesprochen. Drei kamen aus Sicht der Medizin. Was sind die anderen?
Hengstschläger:
Ich bin auch stellvertretender Vorsitzender der österreichischen Bioethikkommission. Und ich lese heute beim Frühstück, dass nur jeder 10. bis 20. Fall von Kindesmissbrauch zur Anklage kommt und dass es davon nur in jedem vierten Fall zu einer Verurteilung kommt. Kann mir das bitte einmal jemand erklären? Wo haben wir da komplett versagt? Ich bin der Meinung, die ethische Diskussion muss das aufgreifen. Da fehlen ethische Normen. Hier muss man Empfehlungen an die Bundesregierung entwerfen.

Und Ihr fünfter Punkt?
Hengstschläger:
Ganz wichtig: Jeder von uns hat besondere Leistungsvoraussetzungen, Talente. Mit denen kommen wir zur Welt. Aber die sind nichts wert, wenn sie nicht entdeckt und durch harte Arbeit in besondere Leistung umgesetzt werden. Und was produzieren wir? Durchschnitt! Nehmen Sie PISA - wir orientieren uns am Durchschnitt der Finnen! Jedes Kind muss wissen: Es ist sein Recht, dass es in seinen individuellen Stärken gefördert wird. Anpassung ist Unsinn. Wir wissen nicht, welche Fragen die Zukunft bringen wird. Aber wir wissen, wer die Fragen sicher nicht lösen wird: der Durchschnitt. Wir wollen lauter Individuen, nicht nicht lauter gleiche Kinder!

Auch Sie waren ein Kind. Was haben Sie damals als stärkend, als Geschenk empfunden? Fasslabend: (Denkt nach) Mir fällt eigentlich nicht viel ein. Ich bin in einer sehr leistungsorientierten Familie aufgewachsen, wo die Emotionen von Kindern wenig Platz hatten. Umso mehr habe ich es später geschätzt, welcher emotionale Reichtum von meinen Kindern zurückkommt. Das ist ein Geschenk.

Welche Gefühle wecken Ihre Kinder?
Hengstschläger:
Ich könnte jetzt sagen: "Faszination! Es ist das Unglaublichste, ein Kind von Geburt an zu verfolgen." Das wäre die wissenschaftliche Antwort. Aber ich sag' Ihnen die ehrliche: Ich kann über nichts und mit niemandem so lachen wie mit meinen Kindern. Meine Kinder haben etwas in mein Leben gebracht, das ich so nicht kannte. Kinder lachen in einer ganz besonderen, ungebremsten, unpassenden Art und Weise. Es ist herrlich!
Fasslabend: Ich würd' sagen, meine Kinder sind das Schönste, was mir in meinem ganzen Leben passiert ist.

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