Ötzi war genetisch ein Südeuropäer

Ötzi war genetisch ein Südeuropäer
Der Eismann ist eng mit den Bewohnern von Sardinien und Korsika verwandt. Das ergab die erste komplette Erbgut-Analyse.

Carsten Pusch nennt das Ding „Spaghetti“. Und wie ein winziges Stück von einer Nudel schaut die Probe auch aus, die steril verpackt in einem Glasröhrchen am Tisch des Humangenetikers in Tübingen landete. Aufgabenstellung für den Mumienforscher und Genetiker von Weltrang: Ötzis Genom entschlüsseln.

Kurz zuvor, an einem Novembertag 2010, in Bozen: Aus der Beckenschaufel des Eismanns wird ein 1 cm langes Stückerl Knochen mit 1 mm Durchmesser (die Spaghetti eben) entnommen – nachdem Ötzi in einer generalstabsmäßig geplanten Aktion aus seinem eisigen High-Tech-Mausoleum geholt, aufgetaut und einer Ganzkörper-Autopsie unterzogen worden war. Ziel der Untersuchung vom Scheitel bis zur Sohle durch sieben verschiedene Teams aus Chirurgen, Pathologen, Mikrobiologen, Technikern: Ötzis letzte Geheimnisse lüften.

Einmalig

Ötzi war genetisch ein Südeuropäer

„Und das“, sagt Albert Zink, Leiter des Instituts für Mumien und den Gletschermann an der Europäischen Akademie Bozen , „werden wir nur einmal machen und dann viele, viele Jahre nicht wieder.“ Bedeutet doch jedes Auftauen enormen Stress für die etwa 5200 Jahre alte Feucht-Mumie. Die Forscher bemühten sich daher, ohne neue Schnitte auszukommen: Ins Innere gelangten sie durch die „österreichischen Fenster“ – so nennen sie die ihrer Meinung nach zu großen Schnitte der ersten Ötzi-Forscher. Auch Carsten Pusch wollte die Mumie keinesfalls weiter zerstören. Die winzige Probe aus dem Becken musste genügen. „Und die war ein Volltreffer“, sagt der Humangenetiker. „Ich hätte nie gedacht, dass wir damit das hochinformative Kern-Genom entschlüsseln können würden.“

Jetzt, nach mehr als einem Jahr Arbeit, veröffentlicht das Wissenschaftsmagazin Nature Communications das komplette Genom aus der Uralt-DNA von Ötzi. Drei Milliarden Gen-Sequenzen und jede Menge neue Erkenntnisse, wie Carsten Pusch im KURIER-Interview verrät.

KURIER: Was wissen wir jetzt über Ötzi, was vor Ihrer DNA-Analyse unbekannt war?
Pusch: Dass er braune Augen hatte, ist bereits durchgesickert. Wir haben auch herausgefunden, dass er Blutgruppe 0 hatte und laktose-intolerant war. Das heißt, er konnte keine Milch verdauen. Außerdem haben wir das Erbgut auf geografische Signaturen untersucht. Die DNA von 1300 Europäern, 125 Nordafrikanern und 20 Arabern aus verschiedenen DNA-Datenbanken wurde mit der von Ötzi verglichen. Er entpuppte sich genetisch eindeutig als Südeuropäer. Die Interpretation ist schwierig: Er selbst wird garantiert nicht von dort losgelaufen sein. Aus früheren Analysen (unter anderem des Zahnschmelzes, der Spurenelemente aus Wasser und Essen der Region speichert) weiß man, dass er in den Alpen geboren wurde, dort aufgewachsen ist und nie darüber hinauskam. Doch der gemeinsame Vorfahre dürfte im südlichen Korsika, eher im nördlichen Sardinien daheim gewesen sein.

Können Sie eingrenzen, wann Ötzis Vorfahren die Inseln verlassen haben?
Nein, weil wir leider viel zu wenig Vergleichsmaterial, vor allem alte DNA, haben. Ötzi ist der einzige Jungsteinzeitler, von dem ein komplettes Genom vorliegt. Wir konnten jetzt einige Fragen beantworten und haben gleichzeitig hunderte neue aufgeworfen. Wir müssten eine genetische Untersuchung der Jungsteinzeit-Bevölkerung machen. Das war eine interessant Zeit: Die Menschen – jahrhundertelang Jäger und Sammler – wanderten unheimlich viel herum, vermischten sich und wurden sesshaft. Leider fehlt uns altes Material, um das statistisch gegenzurechnen.

Haben Sie das vor?
Klar, wir sind Wissenschaftler, fürchterlich neugierig und notorisch ungeduldig, denn diese blöden Analysen dauern immer so lange (Pusch lacht).

Stimmt die aktuelle Eismann-Rekonstruktion im Bozener Museum mit Ihren Erkenntnissen überein?

Das kann man lassen: Der helle Hauttyp, die braunen Augen, knubbelige feste Waden ... die Muskel-Marken waren extrem gut ausgebildet. Er war ein sehr robuster, gesunder Geselle, so richtig knackig beisammen. Deswegen hatten wir auch Schwierigkeiten, einen Ansatzpunkt für Krankheiten im Erbgut zu finden. Schließlich sind wir aber doch fündig geworden. Vor einigen Jahren hat man entdeckt, dass Ötzi an Arteriosklerose und Verkalkung der Hauptschlagader gelitten haben muss. Das passte überhaupt nicht mit dem Bild zusammen, das wir von ihm hatten: Kein Couch-Potatoe, kein Raucher, kein Alkohol. All die Risikofaktoren, die heute zu Arteriosklerose führen, kannte er nicht. Trotzdem hatte er die Krankheit. Wir untersuchten also die genetische Veranlagung. Und wurden tatsächlich fündig. Die enormen Ablagerungen konnten wir uns damit aber nicht erklären. Daher suchten wir weiter und haben im Genom Hinweise auf Krankheitserreger entdeckt, genauer gesagt Borrelia burgdorferi. Der Bursche hatte in der Tat eine Lyme-Borreliose (Zecken-Borreliose), die sich gewaschen hatte. Sie kann jedes Gewebe, alle Organe, die Gelenke befallen. Kopfschmerzen, Fieber, Schlappheit, Immunreaktionen des Körpers sind die Folge. Ötzi hat die Krankheit sicher jahrelang mit sich rumgeschleppt. Und nun halten Sie sich fest: Jüngste Studien haben gezeigt, dass Borreliose zu Arterienverkalkung führen kann.

Und wäre Ötzi daran gestorben, wenn er nicht ermordet worden wäre?
Die Ablagerungen waren dramatisch. Hätte ihn der Pfeil nicht erwischt, wäre wohl ein Herzinfarkt oder ein Hirnschlag die Todesursache gewesen.

Zur Person: Der Eismann, vulgo Ötzi, vulgo Frozen Fritz
Irgendwann zwischen 3350 und 3100 v. Chr. lebte ein 160,5 cm großer, 50 kg schwerer, durchtrainierter Mann in den Alpen. Der Eismann, vulgo Ötzi, vulgo Frozen Fritz (engl.) war Jäger, Schäfer oder Feuerstein-Vertreter aus einer Tal-Siedlung im Vintschgau. Ötzi litt an Fußpilz und rußgeschwärzter Lunge, hatte Peitschenwürmer und hielt seine Frau – so er eine hatte – durch sein Schnarchen wach. Mit etwa 46 Jahren starb er an einer Pfeilspitze im Rücken.

1991 wurde seine mumifizierte Leiche in 3210 Meter Höhe auf dem Hauslabjoch entdeckt – 92 Meter von der österreichischen Grenze entfernt auf italienischer Seite. In Bozen erhält er 1998 ein eigens für ihn errichtetes Museum.

Etwa 70 Wissenschaftler-Teams aus zehn Ländern machten sich an die teuerste Totenschau der Geschichte. Ötzi wurde zum gläsernen Menschen.

Bisher letzter spektakulärer Forscher-Streich: Ein 41-köpfiges Wissenschaftler-Team unter der Leitung des Anthropologen Albert Zink und des Humangenetikers Carsten Pusch analysierte das komplette Genom von Frozen Fritz. Der Artikel mit dem Titel „New insights into the Tyrolean Iceman’s origin and phenotype as inferred by whole-genome sequencing“ erscheint im Wissenschaftsmagazin Nature Communications.

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