WKO-Präsident Mahrer: "Reden wir endlich über Herden-Kreativität"
38 Milliarden Euro ist das Corona-Hilfspaket der Regierung schwer. Ob das ausreichen wird und die Wirtschaft sich in einer V-, U- oder L-Form entwickeln wird, das sagt Wirtschaftskammer-Präsident Harald Mahrer im KURIER-Interview.
KURIER: Am Dienstag öffnen Geschäfte, die kleiner als 400 m² sind. Haben Sie Verständnis für jene, die sich jetzt benachteiligt fühlen, weil sie zu groß sind, um aufsperren zu dürfen?
Harald Mahrer: Ja, ich habe Verständnis, aber alle Regelungen des Hochfahrens folgen dem Primat des Abstandhaltens. Bei allen Regelungen, die jetzt oder zukünftig getroffen werden, muss auf die Gesundheit geachtet werden.
Die Durchseuchungsrate liegt laut einer SORA-Studie bei 0,33 Prozent der Bevölkerung. Das heißt für viele im Umkehrschluss, dass die Maßnahmen der Regierung überzogen waren.
Nach der Krise muss das Ergebnis heißen: Operation an der Gesundheit gelungen. Patient Wirtschaft lebt. Alles andere ist keine Option. Alle Entscheidungen der Regierung werden mit Umsicht und Risiko getroffen. Alles andere geht in einer nie gekannten Situation wie der jetzigen nicht.
Reichen 500 Milliarden Euro für die EU, 38 Milliarden Euro für Österreich, um die Wirtschaft am Leben zu halten?
Entscheidend ist der Fluss. Wir alle reden vom Geldfluss, Warenfluss, Informationsfluss und und und. Stillstand ist keine Option. Wir leben in einer vernetzten Welt, in der das Fluss-Prinzip entscheidend ist. Die Gelder werden eingesetzt, um Garantien zu übernehmen und Liquidität herzustellen. Beides soll dazu dienen, dass alles wieder in Fluss kommt, der Motor wieder geschmiert läuft. Das wird eine Zeit - und in den verschiedenen Branchen unterschiedlich lange - dauern.
Die Lufthansa verliert täglich eine Million Euro, die AUA braucht 800 Millionen an Staatshilfe. Steht eine Verstaatlichung bevor?
Für die AUA gilt wie für jedes Unternehmen: Ist die Betriebsstätte in Österreich und gibt es einen Liquiditätsbedarf, dann kann man sich an die Corona-Finanzierungsagentur des Bundes wenden. Übersteigt die geforderte Summe 120 Millionen Euro, dann gibt es ein spezielles Kredit-Komitee, das prüft. Ich erwarte mir eine Konsolidierung im gesamten Airline-Sektor. Wie es bis jetzt gelaufen ist - dass man für quasi kein Geld um die Welt fliegen konnte - das könnte Geschichte sein.
Die Tickets werden also teurer, die Anzahl der Sitze geringer?
Das würde ich gar nicht sagen. Es wird, so denke ich, deutlich weniger Airlines geben. Das muss sich nicht automatisch auf die Ticketpreise auswirken.
Auf was werden wir uns im Tourismusland Österreich einstellen müssen oder können?
Das kann niemand seriös sagen. Wir haben es mit einer globalen Veränderung zu tun. Um wieder internationale Gäste empfangen zu können, brauchen wir einen intakten, internationalen Flugverkehr. Den gibt es aber nun nicht: Die Reisefreiheit ist weltweit eingeschränkt. Das hat zufolge, dass wir kreativ sein und überlegen müssen, wie wir im Inland und mit Nachbarn, die auf unserem Niveau sind, ein gutes Gesundheitssystem haben, kooperieren können.
Was bedeutet "kreativ sein müssen"?
Wir sind gerade dabei, die kreativsten und besten Köpfe aus Wissenschaft, Wirtschaft, Kunst und Kultur und Zivilgesellschaft zusammenzubringen, um ein Netzwerk aus Thinktanks zu kreieren. Um zu Lösungsansätzen zu kommen, die wir so noch nie gebraucht haben. Wir haben diese Intelligenz.
Was macht Sie da so sicher?
Sehen Sie sich nur die regionale Vernetzung von Einkaufsplattformen in Österreich an. Wenn wir ständig über Herden-Immunität reden, dann sollten wir endlich auch über Herden-Kreativität reden. Die gibt es nämlich in Europa. Sie muss nur vernetzt werden. Dabei hilft die Digitalisierung natürlich enorm. Ich glaube an dieses rot-weiß-rote Comeback, an die unternehmerische Innovationskraft im Sinne Schumpeters, und ich sehe förmlich die Möglichkeit des Trampolin vor uns, das unsere Wirtschaft auch wieder hochkatapultiert.
Führt das Trampolin auch zu einer Reindustrialisierung?
Es ist klar, dass wir jedenfalls mehr Europa sehen werden in der industriellen Produktion als bisher. Dafür gibt es Gründe: die Stärkung des Heimmarktes Europa, die Unabhängigkeit von internationalen Anbietern in Schlüsselindustrien und das Wissen um die Verwundbarkeit von Lieferketten. Die Digitalisierung hilft uns gerade, die Regionalität besser zu managen und uns zu vernetzen. Das heißt: Die Welt wird ein globales Dorf bleiben, aber es wird zu Verschiebungen entlang der Produktionsketten kommen.
Hat Österreichs Wirtschaft zu wenig auf Autarkie und Autonomie geachtet und die Entwicklung womöglich verschlafen?
Nein, das glaube ich nicht. Gerade, was die Lebensmittelversorgung betrifft, war Österreich immer ein Musterschüler. Wir haben uns von einem Land mit einem Dienstleistungsanteil von unter 20 Prozent am Ende des Ersten Weltkrieges auf über 70 Prozent innerhalb der letzten 100 Jahre entwickelt. Das ist keine Frage des Verschlafens, sondern einer großen, globalen Entwicklung.
Wohin können wir uns Ihrer Meinung nach entwickeln?
Ich sehe das wie einen Reha-Prozess, der drei Fragestellungen beinhaltet. Was hat in der Krise gut funktioniert und sollten wir in Zukunft übernehmen? Was funktioniert nicht? Welche neuen kreativen Lösungen müssen wir in dieser Situation, in der ein Druck, gleich einem Kelomat vorherrscht, finden? Die Corona-App ist das beste Beispiel für die letzte Fragestellung.
Was hat ein Kelomat-Druck mit der Corona-App gemein?
Der Druck für Neues ist groß. Was ist privat? Was öffentlich? Ist die App verpflichtend oder freiwillig? Werden die Daten in einer Blockchain abgespeichert? Die App wird in westlichen, rechtsstaatlichen Ländern womöglich nur auf freiwilliger Basis funktionieren. Was aber, wenn die Daten in einem Wallet wie ein E-Ticket beim Fliegen gespeichert werden? Dann ist das Wallet quasi die Eintrittskarte, weil ich bewiesenermaßen immun bin, damit ins Stadion, ins Kino oder in die Oper gehen kann.
Noch eine Abschlussfrage zur Wirtschaft. In Deutschland wird diskutiert, welchen Verlauf die Wirtschaft nach der Krise nehmen wird. V, U oder L?
Die Situation ist völlig einmalig. Jeder der glaubt, aus historischen Krisen Ableitungen vornehmen zu können, der irrt. Alle Wirtschaftsforscher ändern laufend ihre Prognosen. Warum? Weil wir es mit einem Angebots- und Nachfrageschock zu tun haben und die Krise noch in Gang ist. Die Effekte sind nicht final absehbar. Es ist zu früh, Kassandra oder Merlin spielen zu können.
Die Wirtschaftskammer wickelt derzeit den Härtefall-Fonds ab.
Seit der Corona-Krise gab es laut Wirtschaftskammer Österreich (Stand Karfreitag) 130.000 Anträge, von denen 99 Prozent erledigt wurden. Knapp 110 Millionen wurden bereits an die Betroffenen ausbezahlt.
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