„Wir sind in der EU viel zu wenig präsent“

„Wir sind in der EU viel zu wenig präsent“
Gertrude Tumpel-Gugerell, Österreichs bislang einzige EZB-Direktorin, mahnt mehr personelles Engagement ein

KURIER: Was war Ihre erste persönliche Begegnung mit Europa?

Gertrude Tumpel-Gugerell: Mit 14 Jahren habe ich die Adresse einer jungen Französin bekommen, deren Mutter wollte, dass sie mit einer Österreicherin Briefe auszutauschen beginnt. Daraus ist eine Freundschaft geworden, die bis heute anhält.

Eine Brief-Freundschaft, wie sie im Vor-Facebook-Zeitalter ganze Generationen praktizierten?

Ja, dazu kam noch, dass die Mutter Schubert-Liebhaberin war. Deshalb wollte sie eine Österreicherin als Ansprechpartnerin für ihre Tochter. Wir haben uns erst nur geschrieben, dann bald besucht. Das war für mich der erste interkulturelle Austausch. Ich habe mich jedes Mal gefreut, wenn ich mit dem Zug nach rund 36 Stunden in Frankreich angekommen bin.

Zum Zeitpunkt der EU-Abstimmung waren Sie in einer führenden Rolle in der Nationalbank. Warum sind 25 Jahre nach dem EU-Beitritt Franzosen, Italiener oder welche Europäer auch immer in unseren Augen zuallererst Ausländer?

Ich glaube, das liegt auch daran, dass wir innerhalb der EU Spätberufene sind. Viele meiner Kollegen aus den Niederlanden oder Luxemburg würden sagen, wir sind Europäer. Die haben ein anderes Verhältnis dazu, weil sie schon viel länger Teil der europäischen Zusammenarbeit sind. Vor allem die Gründungsmitglieder der EU haben einen ganz anderen Bezug dazu. In Österreich sind die ORF-Sendungen aus den Bundesländern jeden Tag um 19 Uhr nach wie vor die populärsten Nachrichten. Europa ist uns durch die verschiedenen Krisen zuletzt aber ein wenig näher gekommen. Dass wir die Möglichkeit haben, in Europa mitzureden und aktiv Einfluss zu nehmen, wird immer noch zu wenig wahrgenommen. Man fühlt sich eher als Empfänger, etwa von Regulierungen, als als Mitgestalter.

Bei den EU-Wahlen wird das mangelnde Europabewusstsein besonders schmerzlich spürbar: Nicht einmal die Hälfte geht hin. Was tun?

Es ist immer noch zu wenig bekannt, wie wichtig das Europäische Parlament ist. Dort werden zwei Jahre, bevor die Entscheidungen zu uns ins Parlament kommen, bereits entscheidende Weichen gestellt. Es ist zu wenig bewusst, dass man hier frühzeitig Einfluss nehmen kann und muss.

Sie waren als eine der Direktorinnen die erste Spitzenmanagerin aus Österreich in der Europäischen Zentralbank (EZB). Wie würden Sie dem Mann oder der Frau von der Straße erklären, wozu es die EZB braucht?

Die EZB sorgt dafür, dass die Preise nicht zu schnell steigen. Von einer niedrigen Inflation profitiert in der EU jeder. Wir haben darauf geschaut, dass die Währung etwas wert bleibt. Also, wenn wir woanders hinfahren, wir uns mit dem Euro etwas leisten können. Derzeit ist die Inflation niedrig. Jede Zeit hat ihre Herausforderungen. Das Finanzsystem ist heute international viel enger verflochten. Wir haben dafür gesorgt, dass man weiter Vertrauen ins Bankensystem setzen kann, weil es stabil bleibt und so auch Ersparnisse sicher sind.

Ist Österreich in den EU-Institutionen wie der EZB, der EU-Kommission und anderen ausreichend personell vertreten?

Nein, wir sind in der EU derzeit viel zu wenig präsent. Nach einer ersten Welle rund um den Beitritt ist das massiv abgeflaut. Da waren einige Österreicherinnen auch in sehr hohen Positionen wie etwa als Generaldirektoren und deren Stellvertreter in der EU-Kommission. Es wird nach wie vor der Fehler gemacht, gute Leute im Inland zu halten, statt ihnen für ein paar Jahre bewusst den Weg in die EU zu ermöglichen. Andere kleine Länder machen das sehr konsequent. Wir würden auch diese Haltung brauchen.

Wird es 2030 mehr als die 27 oder weniger EU-Mitglieder geben?

Es wird meiner Meinung nach mehr geben. Es wird der Westbalkan dazu kommen. Es gibt Ambitionen in Georgien, die nicht mittelfristig, aber längerfristig schlagend werden könnten.

Wird es 2030 einen direkt gewählten EU-Präsidenten geben? Oder soll man sich von diesen Zielen verabschieden, weil sie zu utopistisch sind und so der Glaubwürdigkeit der EU mehr schaden?

Vielleicht eine Präsidentin? Die EU wächst in kleinen Schritten. Die Ideale der Gründerväter waren viel radikaler als das, was wir jetzt leben. In den 1950er-Jahren wurde sogar eine gemeinsame europäische Verfassung andiskutiert. Neue drängende Probleme werden auch den Umbau und die Weiterentwicklung der Institutionen voranbringen.

Wird die EU 2030 einen gemeinsamen Finanzminister haben?

Ich glaube ja, weil vor allem die Vertretung der EU auf internationaler Ebene das zunehmend notwendig machen wird. Wir haben bereits einen Eurogruppen-Vorsitzenden. Es kann durchaus sein, dass die Idee, dass der Währungskommissar Vorsitzender des Finanzministerrats ist, umgesetzt wird. Um gegenüber den USA und China stärker aufzutreten, werden Kommission und Regierung auf Dauer mehr zusammenarbeiten müssen.

Josef Votzi

Kommentare