Wikipedia: Wer die Enzyklopädie politisch bearbeitet
Am 10. Juni 2008 wird der FPÖ-Mitarbeiter Walter K. von seinem Chef um eine eher ungewöhnliche Arbeitsleistung gebeten: K. solle ein Foto von Martin Graf (FPÖ) machen und dieses in den Wikipedia-Artikel von Graf hochladen. K. bestätigt das dem KURIER. Damit ist dokumentiert, dass Parteien Wikipedia-Texte, die nach außen hin gern neutral ausschauen, entsprechend ihrer politischen Vorlieben bearbeiten – und dass diese Beeinflussung nicht erst seit gestern, sondern mindestens seit 2008 in der Spitzenpolitik angekommen ist.
Offiziell geben die Parteien das ungern zu. Alle dementieren auf KURIER-Anfrage die reichweitenstarken Texte auf der Online-Enzyklopädie schön zu schreiben. Wie wichtig die Plattform den Parteien aber wirklich ist, geht aus dem 2017 geleakten ÖVP-Strategiepapier, „Projekt Ballhausplatz“, hervor: „Wikipediaeinträge vorbereiten“ wird dort als erste Aufgabe zum Punkt „Informationen zum neuen Team“ gelistet. Erst danach wird die ÖVP-Website genannt, eine schöne Präsenz auf Wikipedia scheint wichtiger.
Das ist nicht überraschend: Für viele Österreicher ist Wikipedia die erste Anlaufstelle, um sich über neue Politiker zu informieren oder politische Entwicklungen nachzuschlagen. Vielleicht waren Sie auch einer von jenen, die Brigitte Bierlein erstmal googeln mussten. Der Wikipedia-Artikel über sie hatte jedenfalls allein am Tag ihrer Ernennung mehr als 180.000 Aufrufe (das ist mehr als reichweitenstarke Online-Nachrichtenartikel erreichen).
Einflussreich
Wer die Artikel über politische Akteure oder auch Geschehnisse schreibt, ist schwer herauszufinden. Die freie Enzyklopädie lebt vom offenen Zugang und erlaubt deshalb jedem Benutzer, super einfach und schnell Artikel anzulegen oder bestehende umzuschreiben. In den seltensten Fällen wird dafür der richtige Name angegeben: Die ÖVP-Mitarbeiterin Kristina Rausch, die laut Strategiepaper für die Wikipediaeinträge über ÖVP-Politiker zuständig ist, findet sich jedenfalls nirgendwo im Bearbeitungsverlauf.
Den ehemaligen FPÖ-Mitarbeiter Walter K. konnte der KURIER nur deshalb enttarnen, weil K. in seiner ersten Bearbeitung, dem oben erwähnten Foto von Martin Graf, schlampig war. Neben seinem Wikipedia-Alias Pappenheim schrieb er auch seinen echten Namen in den Fotocredit. Die Bearbeitung des Fotos sei übrigens die einzige gewesen, die auf Weisung erfolgte, betont K. Die 22.000 anderen Bearbeitungen, die in den elf Jahren danach folgten, seien alle eigenitiativ entstanden.
Womöglich sagt K. das auch in dem Wissen, dass Wikipedia offiziell bezahlte Bearbeitungen verbietet (oder zumindest verlangt wird, den Auftraggeber, in seinem Fall die FPÖ, transparent zu machen). K. hat seinen späteren Chef Graf über die Burschenschaft Gothia Wien, der K. angehört, kennengelernt und einen Job angeboten bekommen.
Seit 2007 arbeitet er nicht mehr für die Partei, auch mit Graf sei er nicht im Guten auseinandergegangen, sagt K. Heute unterstütze er die Partei nur noch als Wähler und auf Wikipedia. Denn auch wenn er nicht mehr im Auftrag der FPÖ auf Wikipedia aktiv ist, ist er es zumindest in ihrem Sinne.
"Natürlich. Jeder Mensch steht irgendwo", sagt K. beim zweiten Telefonat mit dem KURIER auf die Frage, ob seine politische Meinung Einfluss auf seine Wikipedia-Tätigkeit habe. Allerdings möchte er auch darauf hinweisen, dass er auch viele nicht-politische Artikel bearbeitet, die kaum beanstandet werden. Wichtig sei ihm bei allen Bearbeitungen in erster Linie, dass alle die Regeln einhalten.
Ähnlich sieht das der User Liberaler Humanist. "Es gibt Sondermüll, gegen den man vorgehen muss", sagt er. Diese Gemeinsamkeit entbehrt nicht einer gewissen Ironie, denn Liberaler Humanist gilt in der österreichischen Wikipedia-Szene als größter Widersacher von Pappenheim - also Walter K., denn als seine politische Heimat nennt Liberaler Humanist SPÖ und Grüne.
Masse korrigiert sich selbst
Dass K. seine Wikipedia-Bearbeitungen im Auftrag Staches vornimmt, glaubt Liberaler Humanist aber nicht. Fast versöhnlich richtet er seinem Streitpartner aus: "Hätte ausschließlich unser Lager (das Linke, Anm.) die Artikel zur FPÖ bearbeitet, wäre es historisch wohl nicht richtig. Es würde sehr oft 'rechtsextrem' drinnenstehen und wäre kein enzyklopädischer Beitrag." Die Masse der Autoren würde sich vielmehr selbst korrigieren.
Ähnlich sieht das Thomas Planinger, österreichischer Wikipedia-Admin. In Österreich gebe es 57 sehr aktive User (mehr als 100 Bearbeitungen pro Monat), aber nur zehn davon konzentrieren sich auf politische Artikel. Wenn es noch weniger würden, drohe ein gefährlicher Trend, warnt Planinger - denn dann würden die Lautesten gewinnen.
Autor des Ibiza-Artikels enttarnt
Einer der "lauteren" Autoren war auch Christian M., alias Kritischer Berichterstatter. Er bestätigt, den Wikipedia-Artikel zur Ibiza-Affäre angelegt zu haben. M. leitet eine Einrichtung für obdachlose, suchtkranke Menschen und engagiert sich für die Aidshilfe sowie für die Homosexuelleninitiative (HOSI).
Seit Jahren lädt er vor allem Fotos aus nächster Nähe von Bundespräsident Alexander Van der Bellen in die Wikipedia. Ist er vielleicht sogar in seinem Team aktiv? M. möchte nicht mit dem KURIER sprechen. "Schreiben Sie, was Sie wollen", sagt er dem Autor dieser Zeilen, da die Manipulation ohnehin nur von einer Seite komme ("den Türkisen!").
Kommentare