Wer nimmt die Patienten an der Hand?

Als der Kanzler und sein Stellvertreter Anfang der Woche am Ballhausplatz zum „Sommerministerrat“ luden, gab es streng genommen nur ein Thema: Das Gesundheitssystem – und wie man es in die Zukunft führt. Bis zu 100.000 Euro „Start-Bonus“ verspricht die Regierung Ärzten, wenn sie eine schwer oder nicht zu besetzende Kassenarzt-Stelle übernehmen; insgesamt sollen zusätzliche 200 Millionen Euro ins System gepumpt werden.
➤Mehr lesen: Der 5-Punkte Plan der Regierung in Sachen Gesundheit
Aber ist das sinnvoll? Was kann und soll Ärzten wie Patienten zugemutet werden? Und vor allem: Ist die Lage wirklich so beklagenswert – oder befindet sich das Gesundheitssystem nur gefühlt in der Krise?
Zur Frage des Gesamtzustandes hat Maria Hofmarcher-Holzhacker einen klaren Befund: „Die sich nun manifestierende Unzufriedenheit reicht bis 2015 zurück: Schon damals war das System ermüdet“, sagt die auf Gesundheitsfragen spezialisierte Ökonomin zum KURIER.
➤Mehr lesen: 78 Prozent für verpflichtenden Spitaldienst von Jungärzten
Bereits vor der Pandemie wäre de facto das doppelte Budget vonnöten gewesen. Covid-19 habe zur „endgültigen Erschöpfung“ geführt, es müssten nun „sehr große Schritte in Richtung Reform“ erfolgen. Auch Thomas Czypionka, Leiter der Forschungsgruppe Gesundheitsökonomik und -politik am IHS, mahnt zu „substanziellen Reformen“; andernfalls lasse sich die Qualität nicht halten.
"One Stop Shop"-Prinzip
Woran aber „leidet“ das System? Eine der großen Fehlentwicklungen besteht darin, dass Medizin nicht dort stattfindet, wo es für alle Beteiligten am besten ist. „Es wird nach wie vor sehr viel in Spitälern gemacht, was dort nicht hingehört“, sagt Czypionka. Chronische und standardisierte Erkrankungen wie Diabetes müssten längst nicht dort behandelt werden. Czypionka macht aber den Patienten keinen Vorwurf: „Die Menschen gehen ins Spital, weil sie dort das ,One-Stop-Shop’-Prinzip gilt: Man erledigt alles auf einmal.“ Gäbe es vergleichbare Angebote im niedergelassenen Bereich, würde die Belastung der Spitäler sinken.
Hier spannt Hofmarcher-Holzhacker den Bogen zur Wahlarzt-Debatte: „Wahlärzte ganz abzuschaffen wäre absurd und teuer für die Kassen. Vielmehr gilt es, das Angebot im niedergelassenen Bereich so auszugestalten, dass die Grundversorgung überall gegeben ist. Patienten gehen oft nicht zum Wahlarzt, weil sie wollen, sondern weil das Angebot im Kassensystem fehlt.“
Sprechende Medizin
Also einfach mehr Geld und vor allem mehr Kassenarzt-Stellen: Ist das die Lösung? Nicht wirklich. Tatsächlich geht es darum, das System im Kern zu verändern.
Als Beispiel bringt Czypionka die Ärzte-Tarife: „Junge Ärzte wollen nicht fürs Blutdruckmessen, sondern für das Gespräch mit Patienten, also für das ,Sich-Kümmern’ bezahlt werden.“ Dementsprechend solle man das Verrechnungssystem weiterentwickeln. „Vielleicht ist es sinnvoller, zu Pauschalen zu wechseln, wie das andere Länder tun.“
Teures MRT und die Folgen
Zu den ganz großen Themen gehört die, wer Patienten durch das komplexe System führt. Czypionka ortet massiven Verbesserungsbedarf. Ein Beispiel: MRT-Untersuchungen. „Wir wissen aus Studien, dass nach dem MRT in zehn Prozent der Fälle kein einziger Arztkontakt stattfindet.“ Die teure Untersuchung wird erledigt – und ignoriert.
Doch es gibt auch gute Nachrichten. Der neue „Facharzt für Allgemeinmedizin“ bietet für Maria Hofmarcher-Holzhacker das Potenzial, „dass Hausärzte wieder zur Drehscheibe werden“. So wäre es klug, in Ordinationen Personal einzustellen, das Patienten durchs System lotst. „Das müssen nicht unbedingt Ärzte sein, sondern einfach qualifiziertes Personal, das sich im Gesundheitssystem auskennt. Die OECD befürwortet solche Modelle seit mehr als 15 Jahren“.
Kommentare