Warum Spitzenpolitik so ein Stressjob ist
Stimmt es, dass es für den menschlichen Organismus keinen Unterschied macht, ob ein Säbelzahntiger in die Höhle springt oder über einen Lockdown entschieden wird?
„Das ist eine evolutionsbiologische Betrachtung von Stress, die grundsätzlich richtig ist. Die Stressreaktion ist eine entwicklungsbiologisch sehr alte Reaktion und kommt daher, dass es bei Bedrohung immer zwei Möglichkeiten gibt: den Kampf aufzunehmen oder die Flucht zu ergreifen“, erklärt Christian Korunka, Professor am Institut für Arbeits-, Wirtschafts- und Sozialpsychologie der Uni Wien. „Aber ganz so einfach ist die Erklärung auch wieder nicht.“
Am Dienstag trat Gesundheitsminister Rudolf Anschober nach 15 Monaten im Amt zurück. „Diese Pandemie hat unser aller Leben völlig verändert, auch das meine. Ich habe in diesen 15 Monaten versucht, wirklich alles zu geben“, sagte er in einer emotionalen Abschiedsrede. Ihm sei aber „teilweise die Kraft ausgegangen, ich habe zunehmend Kreislaufprobleme bekommen, steigende Blutdruckwerte, steigende Zuckerwerte, ein beginnender Tinnitus, als die logischen Folgen einer Überlastungssituation.“
Anschober ist nicht der erste Politiker, der wegen Überlastung geht. Gesundheitliche Gründe nannten zuletzt auch die damalige Grünen-Chefin Eva Glawischnig (2017) oder der ehemalige Neos-Gründer Matthias Strolz (2018) anlässlich ihrer Rücktritte.
Stressjob?
Aber ist die Spitzenpolitik wirklich so ein Stressjob? Damit man verstehen kann, was zu einer Überbelastung führt, muss Psychologe Korunka zuerst erklären, was einen „typischen“ guten Job ausmacht: „Der ist gekennzeichnet durch ein höchstens mittleres Maß an Belastung, eine begrenzte Arbeitszeit, die Möglichkeit, abschalten zu können, Pausen einzulegen, ein nicht zu hohes Maß an Verantwortung und positives Feedback.“
Wenig davon trifft auf einen obersten Gesundheitspolitiker in einer Pandemie zu. Mehr noch: „Psychologisch betrachtet, ist die Covid-Situation eine der gesellschaftlich gelernten Hilflosigkeit. Wir sind der Pandemie in gewissem Umfang ausgeliefert, und es gibt eben nicht den einen, richtigen Weg, das unter Kontrolle zu bringen“, meint Korunka.
Das und die fehlende Möglichkeit abzuschalten, hätten in der einen oder anderen Form alle Österreicher erfahren. „Weil man aufwacht und mit Corona beschäftigt ist, in den Nachrichten, bei Gesprächen mit Kollegen oder Freunden, bis man sich abends schlafen legt.“ Für einen Gesundheitsminister mit hoher Verantwortung sei das alles natürlich noch viel intensiver.
Aus Anschobers Umfeld ist zu erfahren, dass der Minister nicht selten Arbeitstage von 18 Stunden und mehr hatte. Drei Beraterstäbe mit Fachexperten hielten ihn fast im Stundentakt auf dem Laufenden, dazu die politischen Verhandlungen, die Forderungen der Stakeholder, von den Kinderpsychologen bis zu Wirtschaftstreibenden, und dann noch unzählige Pressekonferenzen und Interviews. Zeit zum Gegensteuern – Yoga, Meditieren, Joggen – sei kaum geblieben.
In einer derartigen Position seien diese „Stressoren“ klar erkennbar, sagt Korunka. „Ein Höchstmaß an Verantwortung, bei der jede Entscheidung direkte Folgen auf das Leben der Menschen haben kann. Entscheidungen im grellen Scheinwerferlicht der Medien, wo es eigentlich null Fehlertoleranz gibt, weil das in unserer Gesellschaft nicht vorgesehen ist. Dann die permanente Konfliktsituation auf politischer Ebene. Das alles über 14 Monate auszuhalten, ist nicht leicht.“
Und nicht zuletzt komme noch die fehlende Erfolgsquote hinzu. „Es geht ja letztlich um die Gegenpole Wirtschaft oder Gesundheit. Diese dialektische Spannung ist nicht aufzulösen, weil es eben keine ,richtige‘ Entscheidung geben kann. Denn macht man das eine richtig, macht man meist das andere falsch.“
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