VP will Notverordnung jetzt: "Kanzler im Irrtum"

Schlechte Stimmung zwischen Kern und Sobotka.
Kern will die Notverordnung erst, wenn Obergrenze erreicht ist. Sobotka winkt ab.

Zumindest über den legistischen Fahrplan zur Notverordnung herrscht Einigkeit zwischen Rot-Schwarz: Am Dienstagabend wurde der Entwurf fixiert (siehe unteren Abschnitt). SPÖ-Bundeskanzler Christian Kern wollte eine "sauber Lösung", wie er sagte. "Das ist natürlich eine Gratwanderung. Aber wir brauchen eine juristisch saubere Lösung, damit sie auch vor dem Europäischen Gerichtshof hält."

Am Mittwoch wird die Sonderverordnung in Begutachtung geschickt. Vier Wochen dauert das Prozedere. Sollte die Verordnung im November oder Dezember benötigt werden, muss sie eine Woche davor im Ministerrat beschlossen werden. So lange dauert es, bis sie dann den Hauptausschuss des Nationalrats passieren könne. "Unmittelbar nach der Behandlung im Hauptausschuss gilt sie", erklärt Kanzleramtsminister Thomas Drozda – und zwar für sechs Monate.

So weit, so gut. Weniger Einigkeit wird bei der Gretchenfrage demonstriert, wann die Notverordnung tatsächlich in Kraft treten soll?

Bevor 37.500 Flüchtlinge zum Asylverfahren in Österreich zugelassen sind? Oder erst, wenn die Obergrenze erreicht ist?

Sobotka verwundert

In diesem heiklen Punkt bahnt sich der nächste innerkoalitionäre Clinch an. Denn Kern machte gestern beim Mediengespräch vor dem Ministerrat seinen Standpunkt deutlich: "Wenn wir die 37.500 zugelassenen Asylverfahren nicht erreichen, brauchen wir auch keine Notverordnung. Dabei bleibt es."

Bei der ÖVP stößt diese Auslegung auf Verwunderung. Vor allem ÖVP-Innenminister Wolfgang Sobotka lässt dem Kanzler ausrichten: "Hier erliegt der Bundeskanzler einem Irrtum", heißt es aus dem Innenministerium gegenüber dem KURIER. "Wir brauchen die Sonderverordnung, damit wir die Zahl von 37.500 zugelassenen Asylanträgen nicht überschreiten."

Auch ÖVP-Vizekanzler Reinhold Mitterlehner sieht den Timing-Vorschlag des Kanzlers kritisch. "Das ist noch zu diskutieren. Es macht keinen Sinn, eine Verordnung in die Begutachtung zu geben, wenn man das nur als theoretische Übung sehen würde."

Aber genau darauf, dass die Notverordnung nur für "die Schublade" produziert wird, setzt Kern. Einerseits will der Kanzler kein Pingpong-Spiel mit Menschen an der österreichisch-ungarischen Grenze sehen, wenn die ersten Zurückweisungen stattfinden. Andererseits existiert für den Regierungschef die "begründete Hoffnung", dass die Obergrenze von 37.500 gar nicht erreicht wird.

"Die Zahlen der Einreisen über Ungarn haben sich deutlich reduziert. Die Maßnahmen der Ungarn an deren Außengrenzen zeigen ihre Wirkung", bekräftigte Kern.

Der Begutachtungsentwurf für die Asyl-Notverordnung ist fertig. Das der APA vorliegende Papier listet auf neun eng bedruckten Seiten auf, wieso Österreich es für rechtens hält, Flüchtlingen künftig ab Erreichen eines bestimmten Höchstwerts das Stellen von Asylanträgen zu erschweren.

Die Regierung geht nämlich davon aus, dass eine Gefährdung für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit vorliegt.

Argumentiert wird auf den unterschiedlichsten Ebenen, etwa in Sachen Kriminalität. So heißt es in den Erläuterungen zu der Verordnung: "Der überdurchschnittlich hohe Zuzug von Schutzsuchenden stellt eine enorme Herausforderung für die allgemeine Sicherheitslage dar."

Asylwerber und Straftaten

Dargelegt werden diverse Statistiken, etwa dass die von Asylwerbern begangenen Straftaten im Vorjahr deutlich gestiegen seien, darunter "nicht nur" Diebstähle, Suchtgiftdelikte etc. "sondern auch Vergewaltigungen und ein Mord". Angemerkt wird ferner eine zunehmende Radikalisierung unter den Gefängnisinsassen sowie dass aus Kapazitätsgründen "ein an den Zielen der Resozialisierung orientierter Strafvollzug kaum mehr möglich ist".

Beklagt wird in den Erläuterungen zudem, dass die hohen Fallzahlen an Asylwerbern die Behörden vor große Probleme stellten: "Die hohe Qualität des Asylverfahrens kann bei einer gleichbleibend hohen Zahl an Schutzsuchenden nicht mehr sichergestellt werden, da insbesondere die personellen Ressourcen zum Erliegen kommen werden." Die Zahl der offenen Verfahren habe sich ausgehend von 31.338 zu Beginn des Jahres 2015 im Laufe dieses Jahres mehr als verdoppelt.

Überdies werde mit einem neuerlichen starken Zustrom an Schutzsuchenden die Versorgung und Unterbringung nicht mehr sichergestellt werden können. Ohnehin müsste man in solchen Fällen auf Großquartiere ausweichen und diese hätten sich häufig als Orte mit einem hohen Potenzial an ethnisch-kulturellen bzw. sozialen Konflikten und Anspannungen erwiesen.

Arbeitsmarkt und Gesundheitssektor

Ein wesentlicher Punkt in der Argumentation ist der Arbeitsmarkt. Denn Österreich sei durch die Öffnung für die neuen EU-Länder ohnehin schon belastet. Eine starke Zunahme an Schutzberechtigten bedeute nun eine Verfestigung der Arbeitslosigkeit in einem schwierigen Arbeitsmarktsegment.

Als weiteres Problemfeld wird der Gesundheitssektor angeführt. Ein Zustrom wie im Vorjahr berge das Risiko, dass es zu Versorgungsengpässen komme, wird gewarnt. Weiters wird betont, dass durch den Mehrbedarf an Psychologen und Psychotherapeuten mit langen Wartezeiten auf Therapieplätze zu rechnen sei: "Eine zeitliche verzögerte Behandlung mündet häufig in chronischen psychischen und somatischen Erkrankungen" wird gewarnt.

Schließlich wird noch darauf verwiesen, dass der Schulbereich mit einer fünf Mal so hohen Zahl neu hinzukommender schutzsuchender Kinder und Jugendlicher konfrontiert gewesen sei. Auch Wohnungsengpässe werden erwartet, die nicht kurzfristig behebbar wären.

Kosten im Asylbereich: Rund zwei Milliarden Euro

Nicht fehlen darf zu guter Letzt die "außerordentlich hohe Belastung" des Staatshaushalts. Prognostiziert werden für heuer Kosten im Asylbereich von zwei Milliarden.

Dass die Gefahr einer neuerlichen Massenbewegung nach Österreich besteht, ist die Regierung überzeugt. Internationale Berichte bestätigten den anhaltend hohen Migrationsdruck auf Europa. In Libyen erwarteten bis zu eine Million Menschen eine Überfahrt nach Europa. Fast fünf Millionen Syrer seien in Nachbarstaaten geflüchtet und in Afghanistan gebe es ein Potenzial von bis zu 1,5 Millionen Menschen, die eine Migration nach Europa ins Auge fassten.

Die ausführliche Begründung der Maßnahme hängt damit zusammen, dass Österreich europarechtliche Probleme drohen könnten, wenn die Verordnung in Kraft gesetzt wird. Freilich soll dies laut Regierungsspitze ohnehin erst der Fall sein, wenn heuer 37.500 Asyl-Anträge gezählt sind. Derzeit ist man davon noch ein Stück entfernt.

Änderungen sind noch möglich

Grundsätzlich sieht das Prozedere vor, dass der Regierung in Absprache mit dem Hauptausschuss die Möglichkeit eingeräumt wird, bei größeren Flüchtlingsströmen per Verordnung "Sonderbestimmungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und des Schutzes der inneren Sicherheit während der Durchführung von Grenzkontrollen" einzuleiten.

Dies hätte zur Folge, dass an der Grenze keine Anträge (außer im Fall von Verwandten in Österreich oder der Gefahr von Folter etc. durch Kettenabschiebungen) mehr gestellt werden können, sondern die Flüchtlinge ins jeweilige "sichere" Nachbarland zurückgeschoben werden sollen. Jene Asylsuchenden, die es bis ins Landesinnere schaffen, können hingegen weiter Asyl beantragen, wenn ihr Weg nach Österreich nicht nachvollzogen werden kann. Befristet ist diese "Notverordnung" zunächst auf sechs Monate, kann aber drei Mal jeweils um ein halbes Jahr verlängert werden.

Änderungen sind freilich noch möglich - und zwar nach der Begutachtung, die auf vier Wochen angelegt wird. Gestartet wird sie am Mittwoch um 7 Uhr.

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