Vorschau: 2020 als politisches Wendejahr
Die angehenden Koalitionschefs Sebastian Kurz und Werner Kogler haben sich, um die Einigung auf ihre gemeinsame Bundesregierung zu verkünden, den Neujahrstag ausgesucht. Aber nicht nur das Datum trägt das Prädikat „neu“, sondern das ganze Projekt.
Neu ist die Regierungsbeteiligung der Grünen auf Bundesebene. Neu ist für die ÖVP, mit den Ökos zu koalieren. Neu sind der hohe Frauenanteil und der niedrige Altersschnitt, den die künftige Regierung aufweisen wird.
Vieles wird auch an den Inhalten neu sein, die Kurz und Kogler ausverhandelt haben und am 2. Jänner präsentieren werden.
Neu ist auch – eine Hoffnung: auf einen offenen Stil, auf einen sachlichen Ton, auf Transparenz, die den Namen verdient.
Ein Experiment zum Start
Trotz gemeinsamer Regierung werden bei Türkis und Grün die Unterschiede offen zu Tage treten. Sie lassen sich nicht verbergen, und sollen daher auch nicht verborgen werden. „Unsere Ansichten sind in manchen Bereichen grundverschieden, da versuchen wir gar nicht, uns gegenseitig zu überzeugen“, erzählt ein Verhandler aus den Erfahrungen der vergangenen Wochen. Er fügt an: „Diese Koalition wird ein Experiment.“
Andererseits haben sich Türkis und Grün in den vielen gemeinsamen Stunden auch besser kennengelernt und manches ausräumen können. Kurz und Kogler, erzählen Mitverhandler, kämen gut miteinander zurecht. Die schwierigste Phase war die, als die 100 Experten in Fachgruppen miteinander redeten. Da gab’s „Konfrontationen, die Kurz und Kogler danach einfangen mussten“.
Diese Arbeitsweise wird wohl im Koalitionsalltag ihre Fortsetzung finden. Kogler wird das Scharnier zu Finanzminister Gernot Blümel und zum Kanzler sein, er wird „die erste und die zweite Instanz aufseiten der Grünen sein“, heißt es im kleinen Kreis.
Kogler genießt bei den Grünen großes Ansehen. Er hat nach dem Rausfliegen aus dem Parlament unter persönlichem Gehaltsverzicht die Finanzen der verschuldeten Partei geordnet. Er hat die Partei zusammengeflickt und ihr dann binnen kurzem zwei Wahlerfolge beschert – wieder mit persönlichem Einsatz. Kogler hat zwei Mal hintereinander, bei der EU- und der Nationalratswahl, die Ochsentour als Spitzenkandidat auf sich genommen.
Von diesem Kredit kann Kogler zehren, wenn er Skeptiker in den eigenen Reihen überzeugen muss. Denn Spannungen zwischen Grün-Anhängern und ÖVP sind unausweichlich, vielleicht nicht einmal so sehr inhaltlich als im Atmosphärischen. Etwa, wenn die ÖVP im Clinch gegen die FPÖ ihre rechtspopulistische Rhetorik auspackt. Und das wird sie.
Und die Blauen?
Die FPÖ ist gebeutelt von Skandalen und innerer Zerrissenheit, und umso mehr versucht Herbert Kickl, mit Anti-Ausländer-Propaganda die angeschlagenen Blauen wieder aufzupäppeln.
ÖVP-Chef Kurz hat der FPÖ seit 2017 rund eine halbe Millionen Wähler abgenommen. Um die werden FPÖ und ÖVP raufen. Die bodenständige Klaudia Tanner und das Raubein Karl Nehammer sollen als Sicherheitsminister die ÖVP-Flanke gegen die Blauen abdecken.
Rote Beamte in grünen Ministerien
Die Grünen wiederum werden von der SPÖ unter Druck gesetzt werden. Und da ist das Sozialministerium, das sich die Grünen aufhalsen, ein besonderes Minenfeld: Länder und Kammern, Gewerkschaften und Industriellenvereinigung, blaue Überbleibsel an Schaltstellen der Sozialversicherung, ÖVP-Direktoren in den Kassen, sozialdemokratische Beamte im Ministerium – und weit und breit kein Grüner.
Der Grüne mit der längsten Regierungserfahrung als Landesrat in Oberösterreich, Rudolf Anschober, soll daher in dem schwierigen Ressort Punkte für seine Partei machen.
Die Strategie der Grünen wird sein: Die Sozialpartnerkonflikte transparent zu machen und in die Moderatorenrolle zu schlüpfen.
ÖVP mit vielen, Grüne mit großen Ressorts
Ein interessanter Unterschied zwischen Türkis und Grün wird in der Ministerienverteilung sichtbar: Die ÖVP setzt auf mehr Köpfe in kleineren Ressorts, die Grünen auf wenige Personen in Mammutministerien. Soziales und Infrastruktur, beides grün geführt, gehören zu den budgetstärksten Ressorts, auch wenn der Arbeitsmarkt zur ÖVP abwandert.
Eine besondere Rolle kommt Justizministerin Alma Zadić zu. Sie wird die ersten, schnellen, grünen Erfolge lancieren.
Die ÖVP kam den Grünen beim Kapitel Transparenz weit entgegen, der Rechnungshof wird neue Kompetenzen bekommen. Er darf künftig die Parteien richtig prüfen. Er wird Unternehmen mit einem Staatsanteil ab 25 Prozent prüfen.
Und er wird bei der Postenvergabe eingeschaltet, damit Vergabekriterien und Gagen künftig transparent und nachvollziehbar sind. „Da sind uns nicht Leuchttürme, sondern Leuchtraketen gelungen“, freut sich ein grüner Verhandler.
Die Grünen werden heuer schnelle Erfolge brauchen, denn im Herbst steht eine entscheidende Wahl auf dem Kalender: die Wiener Gemeinderatswahl.
Die SPÖ spitzt schon auf etwaig enttäuschte Grün-Wähler. Für die SPÖ geht es in Wien um alles: Nach hundert Jahren könnte der rote Bürgermeister fallen.
Bei der Nationalratswahl hatten ÖVP, Grüne und Neos in Wien gemeinsam eine Mehrheit. Sollte sich das bei der Gemeinderatswahl wiederholen, wackelt das Rote Wien. Neos und ÖVP sind jedenfalls bereit, eine Dreierkoalition gegen die SPÖ zu schmieden, zum Beispiel mit einer unabhängigen Frau als Bürgermeisterin. „Es kann aber auch sein, dass sich die drei Parteien auf einen ihrer Kandidaten für das Bürgermeisteramt einigen“, sagt ein Eingeweihter.
Bleibt Wien in roter Hand?
Sicher ist: Die ÖVP bläst zum Großangriff in Wien. Gernot Blümel übernimmt das prestigeträchtige Finanzministerium, um mit dem Wiener Bürgermeister „auf Augenhöhe“ wahlzukämpfen.
Seine erste Bewährungsprobe wird Blümel demnächst zu bestehen haben: Er muss ein Budget für 2020 machen. Wegen der Neuwahl gibt es derzeit keinen regulären Bundeshaushalt.
Im März wird es für Blümel auch privat spannend, er wird zum ersten Mal Vater. Baby, Finanzministerium und Spitzenkandidatur im Wiener Wahlkampf – fad wird Blümel 2020 nicht.
Auch in der SPÖ ist bereits alles auf Wien ausgerichtet. Bürgermeister Michael Ludwig ist die Brisanz der Lage bewusst. Die Ausgangssituation: Von den über 30 Prozent, die die FPÖ das letzte Mal erreichte, werden rund die Hälfte diesmal auf dem Markt sein. Die FPÖ und die blaue Abspalterliste um Heinz-Christian Strache werden auf rund 15 Prozent eingeschätzt. D
er Rest ist heiß umkämpft. Anwärter Nummer 1 auf abwandernde FPÖ-Wähler ist die ÖVP. So war das zumindest bei der Nationalratswahl. Aber die SPÖ will diesmal nicht tatenlos zuschauen, wie blaue Wähler zu den Türkisen wechseln. Eine große Hoffnung der Wiener SPÖ ruht auf Hans Peter Doskozil. Wenn ein Roter blaue Stimmen anzieht, dann er.
Insofern wird bereits die erste Wahl 2020 spannend: Die Voraussetzung, dass Doskozils Strahlkraft bis in die Wiener Flächenbezirke reicht, ist ein Wahlsieg im Burgenland am 26. Jänner. Wenn „der Dosko“, wie Ludwig ihn nennt, im Burgenland siegt, will ihn Ludwig als Wahlhelfer holen. Der Wiener Wahlkampf wird ein Populismus-Wettbewerb um heimatlose FPÖ-Stimmen.
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