Über Wertekurse und gegen Vorurteile: "Gift lass ich mir nicht spritzen"

Über Wertekurse und gegen Vorurteile: "Gift lass ich mir nicht spritzen"
Pauline Levin vom Österreichischen Integrationsfonds und Dr. Soheila Shakeri-Leidenmühler über Wertekurse in Zeiten der Pandemie, Klischees und sanfte Ablehnung.

KURIER: Nach eineinhalb Jahren Pandemie, Wochen des Lockdowns: Inwiefern hat sich die Arbeit des Österreichischen Integrationsfonds geändert?

Pauline Levin: Wir mussten darauf achten, dass wir den Kontakt zu den Kursteilnehmerinnen und Kursteilnehmern nicht verlieren – gerade auch, was die Aufklärung über das Coronavirus betrifft. Deshalb wurde das Online-Kursangebot aufgestockt. Was die medizinische Information über die Pandemie betrifft, haben wir bald gemerkt, dass wir an unsere fachlichen Grenzen stoßen und so haben wir uns auf die Suche nach Expertinnen und Experten begeben und sind durch Zufall auf Dr. Shakeri-Leidenmühler gestoßen.

Sie sind Allgemeinchirurgin und Notärztin am Krankenhaus Floridsdorf. Was ist Ihre Aufgabe beim ÖIF?

Soheila Shakeri-Leidenmühler: Ich helfe seit Jänner bei der medizinischen Online-Beratung im ÖIF und den Corona-Sprechstunden mit. Ich selbst spreche Farsi und kann einige afghanische Dialekte verstehen, doch für den Kurs selbst gibt es immer zusätzliche Dolmetscher. Der Großteil der Teilnehmerinnen und Teilnehmer meiner Sprechstunden spricht Arabisch, Türkisch oder Farsi beziehungsweise Afghanisch.

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Was konkret geschieht während eines Kurses?

Shakeri-Leidenmühler: Er beginnt mit einer Einleitung, einer Art Moderation, und durchgehend können Fragen gestellt werden. Eine solch interaktive Corona-Sprechstunde dauert 90 Minuten. Es ist immer wieder schön zu beobachten, wenn sich mehr und mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer online dazu schalten oder man im Hintergrund hört, dass andere Familienmitglieder oder Freunde im Raum sind und bitten, die eine oder andere Frage zu stellen.

Was war oder ist die am häufigsten gestellte Frage?

Shakeri-Leidenmühler: Im Februar wollten die meisten mehr über die Corona-Schutzmaßnahmen wissen: "Was darf man und was nicht?“ Jetzt geht es zumeist um Quarantäne, Impfung und Reisebestimmung. Es sind Fragen wie: "Darf ich in mein Heimatland nur geimpft und muss ich dort in Quarantäne?“ Oder: "Mit wem darf ich Kontakt haben, wenn ich in Quarantäne bin?“ Das mitunter Schwierigste war zu erklären, dass man auf Treffen verzichten soll, dass das Infektionsrisiko steigt, wenn man lange in geschlossenen Räumen ist und keinen Abstand einhält.

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Pauline Levin, Stv. Leitung Team Training und Dolmetschung, im ÖIF

Levin: Wir haben uns mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern über die Herausforderungen des Familienlebens in der Pandemie ausgetauscht und gemeinsam Ideen erarbeitet, wie man dieses gestalten kann. Auch um einen möglichen Lagerkoller zu vermeiden. Gerade Familien, die vielleicht zu sechst oder siebt auf 60 Quadratmeter leben, mussten sich neu organisieren.

Welche Regeln meinen Sie?

Levin: Sich trotz der vielen Beschränkungen auf wenig Raum Rückzugsbereiche zu schaffen, war und ist oft eine Herausforderung. Das beginnt damit, den Küchentisch für verschiedene Tätigkeiten wie Homeschooling bewusst freizuräumen, abends bewusst an diesem Tisch nicht nur zu essen, sondern auch übe die Bedürfnisse aller Familienmitglieder, auch die der Kinder, zu sprechen.

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Dr. Soheila Shakeri-Leidenmühler ist Fachärztin für Allgemein-, Gefäß-  und Transplantationschirurgie

Gibt es spezifische Fragen oder Vorbehalte von Migrantinnen und Migranten, was die Impfung betrifft?

Shakeri-Leidenmühler: Nein, die Fragen sind die Ähnlichen wie überall auf dieser Welt.  Welcher Impfstoff der Bessere sei, oder ob man sich mit einer Allergie trotzdem impfen lassen kann. Ältere Generationen haben - ganz unabhängig ihrer Herkunft - viele Fragen zur Impfung, weil sie an diversen Krankheiten leiden wie zum Beispiel Diabetes, Herz- und Lungenerkrankungen oder Bluthochdruck. Eltern wollen mehr über die Vor- und Nachteile der Impfung für ihre Kinder erfahren. Schwangere haben sich informiert. Ein großes Interesse gibt es natürlich auch an den Nebenwirkungen der Impfung.

Mit Vorurteilen oder Fake –News wie "Die Impfung macht unfruchtbar“ werden Sie nicht konfrontiert?

Shakeri-Leidenmühler: Nein, aber ich weiß, dass sie sich als Vorurteile festsetzen. Umso wichtiger ist es, dass wir durch das persönliche Gespräch versuchen, Patienten bestmöglich aufzuklären. Egal, welcher Herkunft sie sind.

Glauben Sie, dass Gutscheine oder Impfbotschafter ähnlich Streetworkern helfen können, die Impfquote speziell unter Migrantinnen und Migranten zu erhöhen?

Levin: Wir haben versucht, vor Ort mit Dolmetscherinnen und Dolmetscher aufzuklären und sind damit bisher auf wenig Interesse bis sanfte Ablehnung gestoßen. Es ähnelte etwa jenen Situationen, die man von Menschen kennt, die Flyer verteilen.

Shakeri-Leidenmühler: Ich glaube nicht, dass Impfgegnerinnen und Impfgegner mit Gutscheinen überzeugt werden. Es ist wie bei jeder medizinischen Untersuchung, jedem Eingriff, jeder Therapie oder anderen Impfungen: Je mehr aufgeklärt wird, desto mehr können Ängste und Vorurteile genommen werden.

Welche Argumente werden von Ungeimpften am häufigsten genannt?

Shakeri-Leidenmühler: Die Bandbreite ist groß: "Vom Warten auf einen besseren Impfstoff", "mein Immunsystem ist stark genug", "Angst vor den Nebenwirkungen" -  bis hin zu "Gift lass ich mir nicht spritzen“. Ich halte abseits des Gesundheitsbereichs allerdings nichts von einer Impfpflicht, denn durch Zwang werden sich mehr Menschen verschließen.

Vorurteil oder Fakt, dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger die Ambulanz aufsuchen statt den Hausarzt?

Levin: In unseren Werte- und Orientierungskursen thematisieren wir das Gesundheitssystem in Österreich immer wieder. Wenn wir in Gruppen fragen: Wohin gehen Sie, wenn Sie krank sind, dann wird zumeist das Spital genannt. Anhand von Fallbeispielen versuchen wir zu erklären, wann der Hausarzt, wann die Notfall-Ambulanz, wann der Ärztenotruf kontaktiert werden sollte.

Shakeri-Leidenmühler: Dass Menschen auf die Ambulanz gehen, weil sie am Wochenende oder gerade abends Zeit haben - das gab es immer schon. Die Notfallambulanz ist dementsprechend immer gut besucht, und seit der Pandemie überhaupt. In manchen Kulturkreisen ist es Usus, ins Spital zu gehen, weil es keine Hausärzte gibt. Die Pandemie hat aber etwas dazu beigetragen, dass mehr Patienten primär den Hausarzt und die niedergelassenen Fachärzte telefonisch kontaktieren oder aufsuchen, weil durch die Corona-Regeln der Zugang zu den Fach-Ambulanzen deutlich eingeschränkt war.

Der ÖIF führt Wertekurse durch. Welcher Wert ist Ihrer Meinung nach essenziell?

Levin: Die Anerkennung der Gleichwertigkeit von Menschen sowie der respektvolle Umgang, unabhängig des Geschlechts oder der Herkunft.  

Shakeri-Leidenmühler: Respekt und Toleranz für alle Menschen unabhängig ihrer Kultur, für andere Interessen oder andere Meinungen – zu beiden Seiten - das ist essenziell. Jeder Mensch sollte so sein und frei leben dürfen, wie er/sie möchte, ohne Einschränkungen oder Vorurteile.

Unabhängig der Pandemie: Zur Begrüßung nicht die Hand zu geben, werten viele als Respektlosigkeit …

Shakeri-Leidenmühler: Es ist bei Menschen aus dem asiatischen und arabischen Raum durchaus üblich, nicht die Hand zu geben. Stattdessen die eigene Hand zum Herz zu führen und sich sanft nach vorne zu beugen oder nur mit dem Kopf zu nicken. Es ist einfach eine andere Form des Respektzollens. Jedes Land auf dieser Welt hat seine eigene einzigartige Kultur und Geschichte, und mit etwas Offenheit und Interesse können solche Missverständnisse vermieden werden.   

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