"Es kostet keinen Cent, sein Gehirn einzuschalten"

Amnesty International-Generalsekretär Heinz Patzelt mit seinem Team Daniela Pichler und Siroos Mirzaei präsentieren den Bericht über das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen.
Der Bericht von Amnesty über das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen ist vernichtend.

Ich habe so etwas in Österreich nicht für möglich gehalten“, hatte sich Heinz Patzelt von der Menschenrechtsorganisation Amnesty International bereits am Freitagvormittag mehr als enttäuscht gezeigt. Bei der Präsentation des Berichtes (den Bericht finden Sie hier) über die Überprüfung des Erstaufnahmezentrums Traiskirchen versagte Patzelt die Stimme. Die Research-Mission habe "grobe Versäumnisse" festgestellt, die einen "Menschenrechtsskandal" auf österreichischem Boden darstelle.

"Es kostet keinen Cent, sein Gehirn einzuschalten."

Es habe gar nichts mit Bösartigkeit zu tun, "weil für Bösartigkeit braucht es ein Wollen und in Traiskirchen gibt es kein Wollen", so Patzelt, der die Verantwortlichen für die "verwaltungstechnische Inkompetenz" kritisierte. "Es kostet keinen Cent, sein Gehirn einzuschalten", erklärt der Amnesty-Generalsekretär.

"Es kostet keinen Cent, sein Gehirn einzuschalten"
Heinz Patzelt, Head of Amnesty Austria, addresses a news conference in Vienna, Austria, August 14, 2015. Austria has violated human rights conventions by leaving thousands of asylum seekers, including children, homeless and without medical and psychological treatment at a centre with dirty facilities, human rights group Amnesty International said. REUTERS/Heinz-Peter Bader

Bild: Heinz Patzelt übt scharfe Kritik an Bund, Länder und Gemeinden.

Kinderrechtskonvention mit Füßen getreten

Die Ressourcenknappheit, die allerorts betont wird, sei keine Ausrede "im dritt- oder viertreichsten Land der Welt". Denn die nächste Katastrophe stehe bereits in den Startlöchern. Was passiert zu Schulbeginn? Oder im Winter?

Im Erstaufnahmezentrum wird die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen mit Füßen getreten, kritisiert Patzelt und fordert die Jugendwohlfahrt auf, unbegleitete Jugendliche und Kind aufzusuchen und einem Vormund zu übergeben. "Stellen Sie sich vor, die Polizei findet einen zehnjährigen Buben nachts in Wien. Ein Aufschrei würde folgen. Warum nicht in Traiskirchen?"

Verantwortung nicht delegierbar

Patzelt ist sich bewusst, dass der Andrang nach Österreich enorm ist, aber das Land ist menschenrechtlich verpflichtet, zu helfen: "Es kann nicht sein, dass Frauenduschen zu pervertierten Peepshows werden, weil die Politik ihre Aufgaben nicht erfüllt." Und ein Aufnahmestopp in Traiskirchen sei keine Alternative, "Menschenrechte kann man nicht abschalten".

Bild: Das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen ist mit rund 4.500 Flüchtlingen mehr als bloß überfüllt.

Man könne zwar die Aufgaben an Dienstleister übergeben, aber die Verantwortung lasse sich nicht delegieren. Das Innenministerium und die gesamte Bundesregierung sei für die Zustände in Traiskirchen verantwortlich, so das Team von Amnesty International.

Innenministerium nicht überrascht

Überrascht über die Erkenntnisse und Kritik von Amnesty International ist das Innenministerium nicht. Vielmehr habe man seit dem Besuch der Menschenrechtsorganisation in Traiskirchen einiges verbessert. Was man jetzt nicht brauche, seien Polarisierungen und ein Wettbewerb in der Beschreibung von Missständen, erklärte die für Asylfragen zuständige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP). Probleme ortet sie in der Kompetenzverteilung. Die Verantwortung obliegt zwar zwischen dem Bund und den Ländern, aber es gebe Gemeindekompetenzen, mit denen die Aufnahme von Flüchtlingen verhindert werden kann.

Nach Amnesty International bekommt ab sofort auch die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen Zutritt zum Flüchtlingslager Traiskirchen. Das gab die Organisation am Freitagabend nach einem Gespräch mit Vertretern des Innenministeriums bekannt. Sowohl Ärzte ohne Grenzen als auch ein Sprecher des Innenressorts berichteten von "sehr konstruktiven Gesprächen", bei denen die NGO auch ihre Kritik am Zustand im Lager darlegte.

Unterdessen hat die Europäische Kommission Griechenland, Ungarn und auch Österreich finanzielle Hilfen für den anhaltenden Flüchtlingsstrom in Aussicht gestellt. Die Anträge werden von einem unabhängigen Ausschuss überprüft, heißt es.

Weiterführende Artikel

Amnesty International untersucht weltweit die Menschenrechtssituation. Ob und wie im Iran, in Pakistan, in afrikanischen Staaten oder auch in den USA Menschenrechtsverletzungen in Form von Folter, willkürlichen Inhaftierungen oder Negierung des Rechtsstaates geschehen.

Eine "Research-Mission" in einem westlichen Staat wie Österreich ist also schon grundsätzlich erschreckend. Nun wurde das Lager Traiskirchen geprüft.

Der Bericht selbst sorgt für fassungsloses Kopfschütteln. Völlig überbelegt, unzureichende medizinische Versorgung, leicht vermeidbare administrative Hürden, und eine besonders prekäre Situation für Kinder und Jugendliche, die ohne elterliche Begleitung jetzt in Österreich Schutz suchen.

Der heute präsentierte Befund ist richtig. Österreich hat Menschenrechtsstandards nicht eingehalten und damit gültige Vereinbarungen gebrochen. Warum das so ist, darüber werden wir weiter rätseln müssen. Am Geld kann es nicht liegen, es geht nicht um Unsummen.

Verwunderlich auch die vielen Reaktionen in den Online-Foren. „Wir brauchen eine verbindliche EU-Quote für die Aufteilung der Flüchtlinge. Es braucht eine bessere Grenzsicherung durch Frontex oder andere Grenzsicherungsagenturen. Es braucht große Auffanglager in Nordafrika.“ Und so weiter. Über all diese Punkte müssen wir reden, keine Frage, das sind alles wichtige Punkte, die wir lösen müssen. Aber mit der aktuellen Situation in Traiskirchen, die unsere Politik zu verantworten hat, haben diese Fragen wirklich gar nichts zu tun. Hier geht es um das absolute Minimum, dass die Menschenrechte, die Flüchtlingskonvention und die Kinderrechte eingehalten werden. Schlimm genug, dass man das extra betonen muss.

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