Kanzler Kern: "Le Pen würde ganz Europa ärmer machen"

Kanzler Kern: "Le Pen würde ganz Europa ärmer machen"
Bundeskanzler Kern meint, die EU-Länder müssten sich besser und schneller abstimmen. Er ist aber skeptisch, dass das funktionieren wird.

KURIER: Herr Bundeskanzler, in der Politik zählen immer mehr Emotionen. Welche Emotionen haben Sie zu Europa?

Christian Kern: Ganz positive. Ich erinnere mich noch gut, als wir Verwandte in Tschechien und der Slowakei besucht haben oder an Reisen nach Italien. Europa heißt keine Grenzschilder, kein Durchfilzen beim Zoll. Die Emotionen post Trump führen uns doch deutlich vor Augen, dass Europa eine Wertegemeinschaft ist, die auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde beruht. Alles keine Selbstverständlichkeit mehr, wir müssen uns dafür engagieren.

Müssen Politiker emotionaler für Europa argumentieren?

Bei den Jugendlichen gibt es eine große Zustimmung zu unserer Rolle in Europa. Ich kenne kein einziges von den großen Problem – von der Migrationsfrage über Arbeitsplätze bis hin zu unserer Positionierung in einer globalen Welt, Stichwort China –, das wir außerhalb Europas besser lösen könnten als in Europa. Dass das ein mühsamer Weg wird, ist klar.

Alleine der Brexit ...

Ich hatte bei der UN-Generalversammlung in New York den Eindruck, dass die Europäer bemitleidet wurden, weil die Briten weg sind. Nach dem Motto: Euch gibt es nicht mehr lange. Aber: Wir sind der erfolgreichste Wirtschaftsraum der Welt. Wir liegen vor China und den USA. Uns würde mehr europäisches Selbstbewusstsein guttun.

Gleichzeitig mahnte Obama in seiner Europa-Rede vor plumpem Nationalismus. Wie kann man diesem beikommen?

Zwischen Trump, Brexit, Le Pen und der FPÖ gibt es eine direkte Linie. Die Globalisierung hat Hunderte Millionen Menschen aus der Armut geführt. Gleichzeitig haben wir einen Wettbewerb mit Ländern, wo mit Sozial-, Umwelt- und Lohndumping produziert wird. Der Technologiewandel, Automatisierung und Roboterisierung erhöhen den Druck auf den Arbeitsmarkt. (Zum Artikel "Obama bei Merkel: Trumps Schatten reicht bis nach Berlin")

Was wiederum zur Konsequenz hat?

Das reale Median-Einkommen in den europäischen Mittelschichten, auch in Österreich, ist in den letzten fünf Jahren gesunken. Gleichzeitig arbeiten immer mehr Menschen in Jobs, von denen sie nicht leben können. Die Durchschnittseinkommen sinken deshalb, weil zunehmend mehr Menschen nicht mehr in klassischen Arbeitsverhältnissen leben. 1,4 Millionen Menschen sind bei uns entweder Einzelunternehmer oder Teilzeitbeschäftigte. Deren Lebenswirklichkeit ist eine ganz andere als jene der Vollzeitbeschäftigten.

Gerade diese Menschen wählen nicht mehr links, wie früher, sondern rechts. Das muss Sie als Sozialdemokraten irritieren.

Das ist eine interessante Beobachtung, der ich Folgendes hinzufüge: In gut entwickelten Ländern geht der Protest nach rechts, siehe USA. Dort, wo Länder wirkliche Probleme haben, geht es nach links: Griechenland, Spanien usw. Das Wesen der Rechtsdemagogie ist, so zu tun, als hätte man auf alles eine Antwort –, aber in Wahrheit hat man für nichts eine Lösung. Boris Johnson versprach sieben Milliarden netto mehr für das Gesundheitssystem nach einem Brexit. Aber: Sie werden 60 Milliarden für den Austritt zu begleichen haben. Trump erklärte, er beseitigt Obamacare mit einem Federstrich. Nachdem er es gegoogelt hatte, sagte er, er müsse es doch behalten. Im Amt ist nichts mehr von dem da, was versprochen wurde. Das sind lauter leere Versprechen. Da muss man aufzeigen. (Aktuelle Berichte zur US-Wahl und Donald Trump lesen Sie hier)

Der britische Historiker Norman Davies hat bereits vor 20 Jahren geschrieben, Europa wird seine Grenzen, seine Identität und seine Loyalität neu definieren müssen. Wo sind die Grenzen Europas?

Zunächst sind es die geografischen Grenzen. Wir hatten die Illusion, einen Binnenmarkt zu schaffen und die Außengrenzen nicht ausreichend zu sichern. Diese Nachlässigkeit hatte einen Preis.

Wenn sich die Türkei wieder zur Rechtsstaatlichkeit bekennt, gehört sie zu Europa?

Kanzler Kern: "Le Pen würde ganz Europa ärmer machen"
Eine rechtsstaatliche, demokratische Türkei hat einen Platz in Europa, aber nicht unbedingt in der EU. Das würde zu extremen, ökonomischen Verwerfungen führen. Wir kämpfen heute schon mit der Osterweiterung, die unseren Arbeitsmarkt belastet. Bei der Türkei mit 80 Millionen Menschen sind wir nicht in der Lage, einen Beitritt zu verdauen. Zumal wir zwei weitere Grundprobleme haben: Die Governance-Problematik und die Eurozone. Es fehlen uns effiziente Entscheidungsmechanismen, das holt uns ein. Das zweite Problem ist die Eurozone. Eine an sich richtige Konzeption, aber man hätte damals den Mut haben müssen zu sagen, wir stimmen die Wirtschafts- und Fiskalpolitik ab. Jetzt haben wir durch den Euro die Disparitäten zwischen Norden und Süden noch verstärkt. Man braucht in Deutschland und Schweden andere Antworten als in Portugal oder Italien.

Wird die EU es schaffen, effizienter Entscheidungen zu treffen und eine gemeinsame Fiskalpolitik zu etablieren?

Der Brexit wird wie ein Katalysator wirken. Es wird vielen klar werden, warum wir zu Europa stehen. Wir bekennen uns zu den vier Freiheiten. Wir haben aber in Österreich die Situation, dass wir Nettozahler sind und 310.000 Menschen aus der EU eine Beschäftigung geben. Davon sind 150.000 reguläre Arbeitskräfte, 160.000 sind Entsendungen. Diese Entsendungen laufen vielfach zu inakzeptablen Bedingungen. Lohndumping ist auf der Tagesordnung. Es ist einer der Punkte, die ich ganz kritisch sehe. Am Arbeitsmarkt haben wir dadurch steigende Arbeitslosigkeit. Wenn es in Großbritannien Einschränkungen der Personenfreizügigkeit gibt, dann ist es für mich ganz klar, dass wir diese Einschränkungen auch in Österreich wollen.

So argumentiert die FPÖ seit Jahren.

Von den Entsendungen im Pflege-, Kranken- und Sozialbereich profitieren wir. In der Bauwirtschaft ist es anders. In der Migrationsfrage erwarten wir uns, dass Europa sich solidarisch verhält, und in der Arbeitsmarkt-Frage werden wir ganz schnell sagen: Es gibt kein Europa à la carte. Polen bezieht 17 Milliarden an Nettozahlungen. Da darf man sich Solidarität bei Arbeitsmarktfragen wohl erwarten.

Was gehört zur europäischen Identität? Das Christentum?

Ich würde es nicht religiös definieren. Obama hat das schön in seiner Rede gesagt: Von der griechischen Antike bis heute: Europa ist das Role Model in vielen Bereichen wie Kultur, Philosophie, Wirtschaft. Viele Entwicklungen sind hier vorangegangen. Vor diesem Hintergrund stehe ich als stolzer Europäer zu unserer Vielfalt.

Schon ein "glühender Europäer", wie das Ihr Vorgänger Faymann erst im Amt wurde?

Ich bin ein glühender österreichischer Europäer.

Brauchen wir in Europa mehr Loyalität?

Loyalität und Solidarität. Ich habe die Sorge, dass sich diese auflösen. Ein Beispiel: Ein guter Teil in Europa hat Stahlindustrie, ein anderer nicht. Wir wissen, dass allein heuer 40.000 Jobs in der Stahlindustrie verloren gegangen sind. Es kann nicht sein, dass diejenigen, die von den billigen chinesischen Exporten oder Löhnen profitieren, nichts beitragen. Ich erwarte mir für unsere Stahlindustrie und -mitarbeiter, dass es eine europäische Solidarität gibt.

Und Loyalität durch gemeinsame Steuerpolitik?

Ich schätze die Iren. Aber was da in Irland mit Apple in puncto Steuerentlastung passiert, das geht nicht. Ein paar Länder holen sich finanzielle Vorteile zulasten des großen Rests. Diesen Ländern müssen wir die Frage stellen: Ist es eigentlich fair, dass ihr die anderen um ihre Steueranteile bringt?

Analog zu dem Satz von Wolfgang Schäuble und Christian Wulff "Der Islam gehört zu Deutschland" – Gehört der Islam zu Österreich?

Ja. Hier leben 600.000 Muslime. Jeder, der das verneint, schwindelt.

Aber der FPÖ bringt die klare Abgrenzung und Ausgrenzung von Muslimen Wählerstimmen.

Die FPÖ spricht manchmal richtige Themen an, nur ohne Lösungen zu haben. Die Wahrheit ist gerade in der Integration, dass sie nicht so gelaufen ist, wie wir uns das gewünscht haben. Ich meine damit aber nicht immer die Migration des letzten Jahres, sondern das, was vor 30, 40 Jahren passiert ist, bis zur Gruppe der Tschetschenen, die vor 15 Jahren ins Land gekommen sind.

Jean-Claude Junckers erste Reaktion auf Trumps Erfolg war eine europäische Armee. Brauchen wir diese?

Österreich hat eine Sonderstellung, weil wir neutral sind. Wir haben aber gleichzeitig Solidarität bewiesen, engagieren uns bei Frontex oder an der serbisch-ungarischen Grenze. Es gibt Möglichkeiten, die man ausbauen kann, ohne gleich eine Armee zu bilden. Die NATO will ein starkes Europa. Der Aufbau einer Doppelstruktur würde aber mit Argwohn von den NATO-Mitgliedstaaten gesehen. Vor diesem Hintergrund ist Junckers Idee verständlich – es wäre aber ein langer Weg dorthin.

Das heißt, egal was passiert, Österreich bleibt neutral?

Wir stärken die Fähigkeit, uns selbst zu verteidigen. Dafür investieren wir jetzt wieder deutlich mehr ins Bundesheer.

Ist eine EU-Erweiterung denkbar?

Wir haben größtes Interesse daran, was am Balkan passiert. Wir sehen, dass die Türken dort um Boden ringen, die wahhabitische Linie, die Russen sind auch interessiert. Europa darf dieses Terrain nicht Dritten überlassen. Das heißt für mich rascher Beitritt Serbiens. Auch Albanien ist denkbar.

Ist Russland ein Partner der EU?

Russland ist ein wichtiger Wirtschaftspartner, mit dem uns zudem viel verbindet und dem Österreich historisch auch zu Dank verpflichtet ist.

Wirtschaftskreise fordern die Aufhebung der Sanktionen.

Wirtschaftlich wäre es wichtig, dass diese Sanktionen fallen. Sie zu überprüfen, ist auch richtig. Aber die Wahrung der europäischen Werte muss mehr Wert sein als der kurzfristige, ökonomische Erfolg.

2017 wird es neue politische Partner geben, möglicherweise Marine Le Pen an der Spitze Frankreichs. Haben Sie ein Worst-Case-Szenario?

Wenn in einem Schlüsselstaat der EU die Rechtsdemagogen übernehmen, haben wir ein großes Problem. Den wirtschaftliche Schaden, den jemand wie Le Pen anrichten kann, kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Für uns wäre es ein enormer Wohlstandsverlust, Europa, Österreich würden ärmer werden. (Zum Artikel: "Ziel Élysée-Palast – und Le Pen verhindern")

Gibt es eine Chance, dass der Brexit doch nicht stattfindet?

So, wie sich die Briten jetzt organisieren, hat man fast das Gefühl, dass sie am Exit vom Brexit arbeiten. Wird an der Personenfreizügigkeit etwas geändert, werden wir das auch für uns fordern. Die Briten haben Pensionsverpflichtungen übernommen, sie haben langfristige Zusagen bei Investitionen, für Forschungsprojekte. Sich wegzustehlen und zu sagen, das gehe sie nichts mehr an, wird nicht funktionieren. Man wird die Verantwortung von den Briten einfordern müssen, und das wird ein zäher Prozess werden. Wenn sie wirklich verstanden haben, was der Brexit heißt, werden sie erkennen, dass es einen hohen Preis hat.

Auch Sie selbst wurden schon als Populist bezeichnet. Was bedeutet dieser Begriff für Sie, der so negativ besetzt ist?

Das wird jeder, der drei klare Sätze spricht. Für Le Pen und Co ziehe ich den Begriff Rechtsdemagogen vor.

Stichwort links und rechts. Wo würden Sie sich und die SPÖ verorten? Gerade in einer Zeit, da wir auch vom neuen Biedermeier sprechen, könnte doch gerade eine Partei der Mitte Wähler ansprechen?

Ich kann mit der Kategorie links oder rechts in der SPÖ wenig anfangen. Ich sehe mich nicht als Linken und auch nicht als das Gegenteil. Wir versuchen, eine moderne Politik zu machen, die die Notwendigkeiten und Herausforderungen der Zeit abdeckt. Bei der CETA-Frage gab es Länder, die waren sehr skeptisch, sowohl auf der rechten Seite als auch auf der linken. Diese Dinge zerfließen. Auch zwischen Forderungen von Le Pen und sehr linken Organisationen gibt es erstaunliche Parallelen.

Rückt Europa näher zusammen oder driftet es auseinander? In welchem Zeitraum wird man sehen, in welche Richtung es geht?

Ich fürchte, um diese Fragen zu lösen, braucht es einen starken Antrieb. Als starken Treiber sehe ich den Brexit. Entweder, wir werden die Wirtschaftsbeziehungen beschädigen und ärmer werden, oder wir lockern das Regelwerk. An der Stelle ist spätestens die Entscheidung zu treffen: Wollen wir eine losere EU oder wollen wir zusammenwachsen. In Wahrheit traut sich niemand angesichts des Aufschwungs der nationalstaatlichen Konzepte einen Schritt weiterzugehen. Ich halte ein Auseinanderdriften daher für wahrscheinlicher.

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