"Sexfibel ist benutzerfreundlich"

"Sexfibel ist benutzerfreundlich"
Experten finden den Ratgeber gut, gesetzwidrige Passagen werden aber entfernt

Der Aufschrei um die Broschüre zeigt umso mehr, dass viele Menschen mit Sexualität überfordert sind", meint der renommierte Sexualpädagoge Wolfgang Kostenwein. Über Kritik, diese Themen würden zu früh behandelt, sagt der Experte: "Sexualität fängt bei der Geburt an. Sogar bei der Babypflege sollte man die Geschlechtsorgane in einem positiven Kontext verwenden."

Von heimischen Pädagogen gibt es jetzt Unterstützung für den umstrittenen Lehrer-Ratgeber "Ganz schön intim, Sexualerziehung für 6- bis 12-Jährige", der seit März an heimische Lehrer ausgegeben wird. Die Fibel mit Übungen für Kinder sei grundsätzlich richtig, sagen sie. "Es geht hier um Pädagogik und nicht um eine intellektuelle Diskussion oder Ideologie. Kinder, die in so einer Lebenssituation sind, fühlen sich angesprochen, sie werden damit aus einem Tabu herausgeholt. Kinder hören heute eh schon sehr oft im Kindergarten, dass sie angeblich schwul sind", betont Kostenwein. "Eltern sind damit überfordert." Auch Olaf Kapella vom Institut für Familienforschung meint: "Als Ganzes ist die Fibel sehr benutzerfreundlich, die Methodik ist durchaus zeitgemäß."

Protest

"Sexfibel ist benutzerfreundlich"
Aufklärungsbroschüre Selbstlaut
Wie berichtet, haben vor allem ÖVP, FPÖ, BZÖ und katholische Elternvertreter einen Proteststurm gegen den Lehrer-Ratgeber "Ganz schön intim" ausgelöst. Darin sind unter anderem eigenwillige Beschreibungen über Selbstbefriedigung zu finden. Kritisiert wird mancherorts auch, dass homosexuelle und heterosexuelle Paare gleichgestellt werden. "Ganz schön intim – ganz schön daneben", urteilt der Familienbund und fordert, dass die Broschüre umgehend eingezogen wird. Kurioses Detail: Einige der Bilder in der Fibel stammen aus Unterrichtsmaterialien, die 2001 unter FPÖ-Sozialminister Herbert Haupt und ÖVP-Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer angefertigt wurden.

Download möglich

"Der Text wird von unseren Beamten noch einmal kritisch geprüft, überarbeitet und die gesetzeswidrigen Passagen korrigiert", heißt es im Büro von Unterrichtsministerin Claudia Schmied. Prinzipiell stehe man aber zu der umstrittenen Sexfibel für Volksschullehrer. Sie selber habe das Papier vorher nicht gesehen: "Die Ministerin kann nicht alle Lehrmaterialien persönlich prüfen."

Für Mit-Autorin Stefanie Vasold wären Ergänzungen sinnvoll: "Aber der Inhalt passt." Sie legt darauf Wert, dass sie zwar politisch für die SPÖ tätig ist, "aber der Verein arbeitet schon länger mit dem Ministerium zusammen. Das mediale Donnerwetter hat uns überrascht. Da stoßen sich vielleicht manche am Wort ,Sexualerziehung‘." Doch die mache der Verein seit 20 Jahren. "Schon kleine Kinder erfahren sexuelle Gewalt und Volksschulkinder sind mit Pornos konfrontiert", heißt es in einer Stellungnahme. "Darauf müssen Erwachsene Antworten haben."

"Deine Mama hat gefickt." Das als Mama aus dem Mund eines Kindergartenkindes zu hören, ist nicht fein, kommt aber vor. Mit vier Jahren finden die Kinder den Klang des Begriffes witzig, ohne sich dessen Bedeutung bewusst zu sein. Je öfter man als Elternteil da pfui schreit, desto interessanter wird’s. Also am besten: weghören, bis es wieder aufhört.

Wenige Jahre später ist vieles anders. In einer sexuell aufgeladenen Welt werden bereits Volksschulkinder mit explizit erotischen Inhalten konfrontiert. Zum (unfreiwilligen) Erstkontakt mit Pornografie kommt es schon mit neun, zehn Jahren – via Smartphone oder Internet. Daraus beziehen dann die jungen Menschen ein verzerrtes Bild von Liebe, Intimität und Sexualpraktiken, so als ob der Blowjob zum Repertoire erster sexueller Erfahrungen gehören müsse. Umso größer wird der Bedarf an einer Aufklärung, die den Gegebenheiten einer neuen Lebensrealität entspricht. Zu dieser Realität gehört eben auch, dass die heile Welt nicht mehr nur Papa-Mama-Hund/Katze-Kind-Ideale zu bieten hat. Alleine in Wien wird jede zweite Ehe geschieden. Es gibt Patchwork-Familien, Single-Kind-Konstellationen und natürlich auch gleichgeschlechtliche Paare. Das ist die sexuelle Vielfalt, aus der wir wählen (dürfen) – sie auszublenden oder gar zu verteufeln, wäre absurd.

Klar – sexuelle Aufklärung sollte dem Alter und den gestellten Fragen entsprechen. Den jüngeren Kindern darf nichts zwanghaft aufgedrängt werden – Feinfühligkeit ist gefragt. Aber, ehrlich: Nicht einmal Dreijährige wollen heute noch mit dem Märchen vom Storch abgespeist werden – das ist so dumm wie respektlos. Und auch das Argument, dass zu frühe Aufklärung frühreife Sexmonster produziere, ist Humbug. Dafür kann gesagt werden: Junge Menschen, die sich auskennen, wissen wenigstens, dass man ein Kondom nicht zwei Mal verwenden darf.
Die "eine" ultimative Aufklärungsmethode gibt es vermutlich nicht. Aber ein paar Sachen stehen fest: Sie sollte die vorhandene Realität abbilden, ohne ideologisch gefärbte "So-muss-das-sein"-Klischees. Sie sollte den jungen Menschen ein gutes Körperbewusstsein sowie Selbstbestimmung näherbringen. Und Toleranz für andere Liebes- und Lebensformen.

Bevor  Sie sich hier vielleicht in vermeidbare  Rage lesen: Nehmen Sie sich kurz Zeit und laden Sie die Broschüre „Ganz schön intim“ herunter. Lesen Sie das Vorwort, die Spielregeln, sehen Sie sich die Übungen durch.

Fertig? Gut: Jetzt gehören Sie zu den bisher offensichtlich nicht allzu zahlreichen Diskutanten, die wissen, worüber sie sich echauffieren – oder eben nicht.  Denn wenn man nur die bisherige Debatte kennt, rechnet man mit einem versauten Lehrbuch, das  Achtjährige in die Homosexualität treibt und die Zerstörung der Kernfamilie propagiert.  Aber: „Ganz schön intim“ ist  keine Sex-Fibel, die Kindern ausgehändigt wird, sondern Unterrichtsmaterial, aus dem sich Pädagoginnen  bedienen können, nach Absprache mit den Eltern und in Kenntnis ihrer SchülerInnen und deren Entwicklung.

Es ist unideologisches, zeitgemäßes und schlicht realistisches Unterrichtsmaterial für die Kinder von heute: Das ihnen helfen soll, sich ihrer Körper, ihrer Sexualität und ihrer Gefühle über sich und zu andern klarzuwerden, und die Veränderungen in der Pubertät zu begreifen und anzunehmen. Das sie lehren soll, zu spüren und klar zu artikulieren, was sie wollen und nicht wollen. Das ihnen zeigt, dass sie einzigartig und wertvoll sind, dass ihre Körper nur ihnen gehören und dass sie Grenzen haben, die niemand überschreiten darf. Es geht um das Selbstwertgefühl von Heranwachsenden und darum, dass sie lernen, sich in einer gefährlichen, übersexualisierten Welt sicher zurechtzufinden.

Die Kritiker der Broschüre  aber wollen Ideologie statt Aufklärung, und sie verlangen, dass unseren Kindern weiterhin eine heile, keusche Vater-Mutter-Kind-Kernfamilien-Welt vorgegaukelt wird, mit gesundem ersten Sex in der Hochzeitsnacht. Aber ist das die Realität? Nein. In der Realität haben schon  Zehnjährige Zugang zu Pornografie, und sie ist voll mit oft ungesundem Sex.   Wer will seine Kinder oder Enkelkinder dem ernsthaft ungeschützt  aussetzen? Sie?

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