Am Zaun der Verzweiflung
Die Flüchtlingsbetreuung findet von Null bis 24 Uhr statt. In vier Schichten zu je sechs Stunden. Auf der Homepage des Roten Kreuzes Steiermark helfen.st.roteskreuz.at sind am Freitag, den 30. Oktober die Schichten von Mittag bis Mitternacht bereits mit Freiwilligen besetzt. Aber von 6 Uhr früh bis zu Mittag werden noch Helfer gesucht. Also ab ins Auto um 3.30 Uhr von Wien nach Spielfeld. Mit der Mail-Bestätigung, eine registrierte Rotkreuz-Helferin zu sein, winken mich die Polizisten, die kurz vor dem Grenzübergang Spielfeld die Bundesstraße absperren, freundlich durch. Vor dem Zugang zum Flüchtlingslager warten unzählige Taxis und Busse auf ihre Flüchtlings-Kunden zum Weitertransport. Das Lager selbst besteht aus mehreren großen Zelten und langen Reihen von mobilen Toiletteanlagen. Das gesamte Areal ist mit Gittern und Straßensperren verbarrikadiert. Es will aber sowieso niemand aus dem Lager ausbrechen – wohin sollten sie auch gehen? Zu Fuß und erschöpft? Also warten die Menschen in langen Schlangen beim Lager-Ausgang in Richtung Österreich auf ihren Weitertransport.
Küche im Freien
Familien, Familien
Wen wundert es da, dass sie gegen den Zaun drücken? Sie wollen ins Lager. Sie wollen weiter. Sie strecken die Hände durch die Gitter. Sie rufen und schreien. Unsere Soldaten fischen Kinder aus der Menge, damit sie nicht erdrückt werden. Alle paar Minuten kollabiert in dem Tumult ein Flüchtling. Aus Stress. Aus Wasser- und Nahrungsmangel. Aus Erschöpfung. Es ist der Zaun der Verzweiflung. Die Flüchtlinge heben die Ohnmächtigen auf die Barrikaden, unsere Sicherheitskräfte hieven sie herüber und tragen sie ein paar Meter weiter zu den Sanitätern. Bald sind die Tragbahren am Wegrand mit Patienten besetzt. Jetzt werden Decken auf den Asphalt geworfen. Ein Mann mit Kreislaufkollaps. Dann noch einer. Jetzt ein Mädchen. Gott sei Dank, es rührt sich wieder. Ein Bursche. Ihn hat es arg erwischt. Er windet sich in Schüttelkrämpfen. Hinter dem Lagerzaun steht der Bruder und redet ihm durchs Gitter gut zu.
Eine Frau hält durchs Gitter das Foto ihrer Tochter. Sie weint, ich solle ihr Kind suchen. Ein Soldat bringt ein vierjähriges Mädchen. Es hat die Eltern verloren. Der Dolmetscher probiert fünf Sprachen, bis sie antwortet. Um Verletzungen zu verhindern, lassen Polizei und Heer immer wieder Gruppen durch den Zaun. Dadurch werden jedoch oft Familien getrennt. Eine Frau hat es mit einem Zwilling geschafft, ihr Mann mit dem anderen nicht. Sie weint bitterlich, doch die Soldaten können nicht unter Hunderten Flüchtlingen auf der anderen Seite den einen suchen. Noch eine verzweifelte Frau, die ihr Kind verloren hat. Ein Soldat, diesmal mit einem Zweijährigen in den Armen. Es ist zu klein, um herauszufinden, in welcher Sprache man seine Eltern übers Megafon suchen soll. Ein weinendes Mädchen hockt neben seinem kollabierten Vater auf dem Asphalt und streicht ihm übers Haar.
Zaun wieder einpacken
Ich stelle mir dieselben Szenen in zwei Monaten vor, wenn es nicht plus 20, sondern minus zehn Grad hat. Wenn die Regierung nicht zusehen will, wie Leute am Zaun erfrieren, soll sie ihre "baulichen Maßnahmen" besser wieder einpacken. Wenn schon eine Schleuse, kann sich diese nur am Ausgang eines Lagers, aber nicht vor dem Zugang zu Wasser, Brot und Wärme befinden. Mit diesen Überlegungen fahre ich zurück in meine heile Welt. Im Bewusstsein, dass es nur zweieinhalb Stunden von Wien eine furchtbar traurige, andere Welt gibt.
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