Allein im Haus der Fremden
Wer Erika Kriesten nicht kennt, der muss sie für eine Heldin, ja für die tapferste Pensionistin der Stadt halten. – Wie sonst sollte sie die "Belagerung" durchstehen? Frau Kriesten ist "umzingelt" von Sippschaften aus Afghanistan, Schwarzafrika und Tschetschenien. Bis auf die Bleibe der fidelen Wienerin sind alle Unterkünfte in ihrem Eckhaus in Rudolfsheim-Fünfhaus von Fremden bewohnt. Migranten, Asylwerber, Flüchtlinge. 150 an der Zahl, und mittendrin: die 72-jährige Pensionistin.
Abwehrkämpfe
Andernorts sieht man die Sache weit weniger entspannt. In Oberösterreich schiebt ein Bürgermeister fehlende Flächenwidmungen vor, um Asylwerber abzuwehren; im Burgenland lässt der Landeshauptmann vorsorglich Kasernen kaufen – Gott behüt’, dass in die leer stehenden Gebäude am Ende noch Flüchtlinge einziehen!Doch in der Robert-Hamerlinggasse freut sich Frau Kriesten an den fremdländischen Nachbarn. "Die Kinder können alle Deutsch, die Älteren gehen in die Arbeit." Einkaufstaschen werden ungefragt in den dritten Stock getragen, Familien bringen Süßigkeiten, Gemüse, Teigtaschen. Beinahe hätte Frau Kriesten die Nachbarin vergessen. "Die Svetlana klopft immer in der Früh, um zu sehen, ob alles passt. Ich bin nicht mehr die Jüngste."
Dass im "Haus Amadou" so vieles klappt, liegt wohl daran, dass es betreut wird: Wie in 44 anderen Unterkünften in Österreich, kümmert sich die Caritas um das Gebäude und die Bewohner. Mehr als 40 Freiwillige, Therapeuten, Sozialarbeiter und sonstige Helfer unterstützen bei Behördenwegen oder unternehmen Ausflüge mit den drei Dutzend Kindern im Haus. Gerade den Jüngsten sieht man nicht immer an, was ihnen widerfahren ist. Amir ist so einer. Der Kleine wohnt mit seinen Eltern Fatima und Reza auf Top 13. Sie kommen aus Ghazni, einer Provinz in Afghanistan. "Fatima sollte mit einem 25 Jahre älteren Mann zwangsverheiratet werden", sagt Reza zum Dolmetsch. "Wir mussten fliehen." Mit Bussen und zu Fuß schafften sie es in den Iran, Amir kam zur Welt.
Unten im Hof sitzt derweil Yussuf im Schatten und raucht. Yussuf heißt nicht wirklich so, aber das Regime in Damaskus muss nicht wissen, wo er ist. Der 35-Jährige hat gegen die Regierung demonstriert. "Für Freiheit und Demokratie. Am 6. Juni 2011 sind wir geflohen", sagt der Syrer. Daheim in Latakia, einer Hafenstadt am Mittelmeer, besaß die Familie einen Supermarkt. Nach den Demonstrationen wurde Yussuf gesucht. Cousins wurden verhaftet, verschwanden.
"In syrischen Gefängnissen wirst du entweder umgebracht. Oder du wirst gefoltert – und dann umgebracht."
Mit 3000 Dollar und den Reisepässen im Gepäck ließen Yussuf, seine Frau und die zwei Söhne – damals 3 und 5 – alles zurück. Supermarkt, Auto, Wohnung. In einem geborgten Wagen fuhren sie ins türkische Mersin. "Ich habe als Träger gearbeitet, aber das Geld reichte nicht. Wir konnten uns immer nur Essen für einen Tag kaufen. "Keine Schule für die Kinder, kein Job für ihn, so konnte es nicht weitergehen. "Also bin ich weg."
Fort in die Küstenstadt Kas, wo er in einer Nacht mit den Kleidern im Plastiksack drei Kilometer zur griechischen Insel Kastelorizo schwamm. Wochen später grub Yussuf an der Grenze zu Serbien im meterhohen Schnee. "Wir haben Gras gegessen, es gab sonst nichts." Nach vier Monaten war er in Wien. Allein. Yussuf darf vorerst bleiben, er hat den Schutz der Republik. Aber seine Familie sitzt in Mersin. Frühestens in einem Jahr wird übers Nachholen verhandelt. Yussuf weint. "Ich danke Österreich. Aber ich fürchte, dass ich meine Kinder nie wieder sehe." Und da ist sie wieder, die Angst. Es gibt reichlich davon im Haus Amadou. Nur eben nicht auf Top 24 bei Frau Erika.
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