Reifezeugnis – aber unreif fürs Leben

Zu viele Jugendliche beenden ihre Schullaufbahn ohne ein gutes Abschlusszeugnis.
Verlorene Generation: Eineinhalb Prozent jedes Jahrganges sind am Arbeitsmarkt "nicht vermittelbar".

Wie kann es sein, dass jedes Jahr Tausende Jugendliche die Schulpflicht beenden, und kaum Deutsch, Lesen, Schreiben und Rechnen können? Da geht es um Jugendliche, die teils er seit Kurzem in Österreich sind, aber auch um Mädchen und Burschen, die neun Jahre lang österreichische Schulen besucht haben.

Losgetreten hat die Diskussion über die immer größer werdenden Schwächen des Bildungssystems die Wiener NMS-Direktorin Andrea Wallach (siehe Artikel unten). Sie berichtete, dass als Folge rund ein Drittel ihrer Schüler nach der Schule "nicht vermittelbar" seien.

In Wien 20 Prozent

In Wien, so wird geschätzt, dürfte etwa jeder fünfte Schüler (20 Prozent!) ohne ausreichende Fähigkeiten die Schullaufbahn beenden, im Österreich-Schnitt ist die Zahl mit rund 13 Prozent deutlich niedriger. Das Schulproblem ist also ein gesellschaftliches Problem geworden – und es besitzt auch eine soziale Sprengkraft.

Tatsache ist, dass viele dieser Jugendlichen nach Ende ihrer Schulpflicht ein Zeugnis ausgehändigt bekommen. Etwa 1300 bis 1500 Schüler jährlich beenden gleich nach Vollendung ihrer Schulpflicht die schulische Ausbildung, ohne einen Abschluss der Sekundarstufe I („Hauptschulabschluss“ erreicht zu haben, ist aktuellen Daten der Statistik Austria zu entnehmen. Das sind rund eineinhalb Prozent jedes Jahrgangs.

Wie vielen Jugendlichen ein positives Abschlusszeugnis letztlich "geschenkt" wird, lässt sich nicht eruieren. Größtes Problem ist dabei das Schulsystem selbst, das neun Jahre Schulpflicht verlangt, aber keinen erfolgreichen Abschluss.

Ein Wiener Schulinspektor, der namentlich nicht genannt werden will, spricht von mehreren Gründen, warum Kinder überhaupt im Schulsystem aufsteigen, obwohl sie das Klassenziel nicht erreichen: "In einigen Klassen ist das Niveau so niedrig, dass man die Anforderungen entsprechend herunterschraubt. Und dann gibt es da noch eine gewisse Sozialromantik – die Lehrer denken, dass jeder Schüler das Recht hat, aufzusteigen und trauen sich nicht, mehr Leistung einzufordern."

Ein weiterer Grund sei, dass leistungsschwache Kinder oft schwierig im Schulalltag zu integrieren seien.

"Wenn man sie wiederholen lässt, dann hat man diese anstrengenden Schüler noch ein Jahr länger an der Schule, also wird das Kind dann doch lieber hochgelobt."

Für Bildungsforscher Stefan Hopmann von der Universität Wien ist das alles kein spezifisch österreichisches Phänomen: "Man hat sich die längste Zeit über solche funktionellen Lese- oder Matheunfähigkeit hinweggestohlen, weil man davon ausgehen konnte, dass es für diese Menschen trotzdem noch genug Arbeit gibt, auch wenn die nicht Lesen und Rechnen können." Hopmann meint, die Zahl der Jugendlichen ohne ausreichende Kenntnisse steige zwar nicht. Allerdings gebe es immer weniger Jobs für diese "Hilfsarbeiter" im Hightech-Land Österreich.

Hopmann: "Es dürfte eigentlich nicht sein, dass man die Schule beenden darf, ohne dass man Lesen und Schreiben kann."

Ausbildungspflicht

Die Politik ist hier nicht untätig: Wie im Regierungsprogramm angekündigt, liegt dem Parlament ein Entwurf für eine "Ausbildungsgarantie bis 18 Jahren" vor. Dieser stammt noch vom damaligen Sozialminister und nunmehrigen Bundespräsidentschaftskandidaten Rudolf Hundstorfer. Der Entwurf normiert eine Ausbildungspflicht für alle Jugendlichen bis 18, die die Schulpflicht erfüllt haben und keiner weiteren Ausbildung nachgehen. Damit soll "die jugendliche Hilfsarbeit weitgehend eingeschränkt werden". Sogar Strafen für die Eltern sind vorgesehen.

Doch noch hapert der Plan gewaltig. "Jeglicher Erwartungsdruck, dass die Unternehmen die Mängel im Schulsystem ausgleichen und alle Jugendlichen in eine Ausbildung übernehmen, welche nicht die Voraussetzungen für eine weiterführende Schulausbildung bringen, ist vollständig abzulehnen", reagierte die Wirtschaftskammer auf den Gesetzesvorschlag.

Die Industriellenvereinigung fordert gleich eine über die Ausbildungspflicht gehende Reform der Pflichtschule "inklusive einer "Bildungspflicht". Die derzeit geltende Unterrichtspflicht, die letztlich nur auf die Anzahl absolvierter Schuljahre abstellt, solle durch eine Bildungspflicht, die darauf abzielt, bestimmte Leistungs- und Kompetenzniveaus zu erreichen, ersetzt werden.

Konkrete Forderung ist, dass in Österreich endlich der Bildungsabschluss der "Mittleren Reife" eingeführt werde. Diese "garantiert ein hohes, für die weiteren (Aus-)Bildungswege anschlussfähiges Bildungs- und Leistungsniveau aller Kinder mit 14 Jahren". In Deutschland existiert die Mittlere Reife in den meisten Bundesländern als ein eigener Abschluss, der zwischen Hauptschule und Abitur angesiedelt ist. In Österreich ist das bisher nicht geplant.

Immer mehr Kinder verlassen die Schulen, ohne ausreichend lesen und schreiben zu
können. Lehrer fühlen sich mit Integrationsaufgaben überfordert. Eltern beklagen weltfremden Unterricht. Wie kann das Schulsystem in Zukunft noch funktionieren?
Morgen, Dienstag, diskutieren der Wiener Stadtschulratspräsident Jürgen Czernohorszky, Lehrergewerkschafter Paul Kimberger, NMS-Schuldirektorin Andrea Wallach und der Ex-fußballprofi und fünffache Vater Paul Scharner unter der Leitung der stellvertretenden KURIER-Chefredakteurin Martina Salomon im Raiffeisen-Forum (Friedrich-Wilhelm-Raiffeisen-Platz 1, 1020 Wien) ab 18 Uhr.
SPÖ-Unterrichtsministerin Gabriele Heinisch-Hosek kommt leider nicht. Der KURIER hatte sie angefragt, und auch zeitliche Alternativen angeboten. Der Wiener Stadtschulratspräsident scheint Diskussionen hingegen durchaus aufgeschlossen zu sein. Wie will er die Spezialprobleme Wiens, vor allem durch die hohe Zuwanderung in der Bundeshauptstadt, lösen? Wie kann das Image der NMS aufgewertet werden, wie ein Run auf Privatschulen verhindert werden? Was sagt der amtsführende Präsident zum Maulkorberlass für Lehrer durch das Ministerium? Und was sagt NMS-Direktorin Wallach, die diese Diskussion überhaupt erst ins Rollen gebracht hat?
Der Eintritt ist frei, um Anmeldung wird gebeten: Entweder per eMail an: events@kurier.at oder telefonisch beim KURIER unter (0)59030-22361

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