Rauch: "Dann fliegen uns die Demokratien um die Ohren"
Gesundheitsminister Johannes Rauch – der von sich selbst sagt: „Mit 63 Jahren habe ich nichts mehr zu verlieren und muss mir nichts mehr scheißen“ – hat sich vorgenommen, das Soziale im Sozialstaat abzusichern. Wie das gelingen soll und warum die Demokratie in Gefahr ist.
KURIER: Heuer liegt die gesetzliche Erhöhung der Pensionen bei 5,8 Prozent. Der Pensionistenverband fordert zehn Prozent. Was kommt?
Johannes Rauch: Reden wir einmal über die gesicherten Dinge. Gesichert sind die Soforthilfen an Pensionistinnen und Pensionisten, die ab jetzt kommen. Uns wurde immer vorgeworfen, dass diese Sofortzahlungen nicht ankommen würden oder zu gering seien. Das stimmt nicht, wie unsere Fallbeispiele zeigen. Eine Mindestpensionistin bekommt für heuer zusätzlich 1.450 Euro.
Aber kommen Anpassungen über 5,8 Prozent?
Ich schließe nichts aus. Wir befinden uns in konstruktiven Gesprächen mit den Pensionistenvertretern. Die Botschaft ist: Es muss treffsicher und sozial gerecht sein. Und zwar so, dass Mindestpensionisten und Personen mit kleinen Pensionen zusätzlich eine spürbare Entlastung bekommen. Ich denke, wir werden noch im September zu einem Abschluss kommen.
Wieso werden Experten, die Pensionserhöhungen über der Inflationsrate als nicht finanzierbar bezeichnen, von der Politik ignoriert?
Werden sie nicht. Es geht schon auch darum, die Balance zu halten. Ich kann ja nicht gleichzeitig als Bundesregierung die kalte Progression abschaffen, werktätigen Personen damit die Teuerung abgelten und das bei den Pensionen nicht machen.
Sie haben getwittert, man könnte die Antiteuerungspakete durch den Vermögenszuwachs der 100 reichsten Österreicher gegenfinanzieren. Wollen Sie Grazer Bürgermeister werden?
Nein, aber ich stelle besorgt fest, dass wir eine zunehmende Schieflage haben. Wir haben eine ganz schmale Schicht, in der Vermögen immer mehr kumuliert werden. Gleichzeitig können Menschen aus der Mittelschicht ihre Miete und ihre Stromkosten nicht mehr bezahlen. Das schafft in einem Ausmaß Unmut, Politik- und Staatsverdrossenheit, was die Demokratie gefährdet. Die Verteilung von Vermögen ist keine klassenkämpferische Frage, sondern eine Frage der Demokratiefähigkeit von Staaten und Gesellschaften. Ich weiß, dass meine Position in der Koalition nicht mehrheitsfähig ist.
Selbst Vizekanzler Werner Kogler hat gesagt, Vermögenssteuern seien kein Thema. Wollen Sie mit solchen populistischen Ausritten die eigene Basis beruhigen?
Keineswegs. Dafür bin ich zu lange in der Politik und ich habe auch nicht die Absicht, da weiter Karriere zu machen. Ich nehme wahr, was sich bei Armutsgefährdeten oder Langzeitarbeitslosen gerade abspielt. Und das hat ein Sprengpotenzial, das vollkommen unterschätzt wird. Wenn es nicht gelingt, das einzufangen, werden wir scheitern. Dann fliegen uns die Demokratien um die Ohren. Wie radikal das entgleisen kann, haben die Entwicklungen in den USA gezeigt, rund um den Sturm aufs Kapitol.
Sind Sie, wie Innenminister Gerhard Karner, auch der Meinung, dass Wissenschaft das eine ist und Fakten das andere sind?
(lacht) Nein, selbstverständlich nicht. Tatsachen, Fakten und Wissenschaften kann man nicht wegdiskutieren. Die Schwerkraft kann ich ja auch nicht wegdiskutieren.
Wissenschaftler, die SPÖ und Ihre Frau haben Sie für das Quarantäne-Aus kritisiert. Finden Sie die Entscheidung nach wie vor richtig?
Wir haben derzeit eine äußerst stabile Tendenz. Und die Auswirkung der Abschaffung der Quarantäne ist gleich null. Wir sind entspannt durch den Sommer gekommen. Das heißt, die Entscheidung war richtig. Aber es heißt nicht, dass das so entspannt im Herbst weitergeht.
Wann wird evaluiert?
Wir treffen uns wöchentlich und evaluieren. Jetzt kommt die nächste Empfehlung des Nationalen Impfgremiums mit Blick auf den Herbst. Nachdem es über den Sommer bereits die Auffrischungsempfehlung für die Vulnerablen und über 60-Jährigen gab, sollen in den kommenden Wochen alle anderen Gruppen zur Auffrischung.
Haben Sie aufgegeben, die 12 Prozent der Menschen zu erreichen, die sich einer Impfung verweigern?
Ja. Die sind mit nichts in der Welt erreichbar, weder mit Prämienzahlungen noch mit sonst was. Das muss man irgendwann akzeptieren. Wir konzentrieren uns auf die Impfwilligen.
Dritter Mann: Johannes Rauch ist der dritte Gesundheits- und Sozialminister in der türkis-grünen Regierung. Er folgte auf den Arzt Wolfgang Mückstein, der im März 2022 das Handtuch warf. Dieser wiederum folgte auf Rudolf Anschober (alle Grüne), der im April 2021 seinen Rücktritt bekannt gab.
Polit-Profi: Rauch wechselte am 8. März 2022 in den Bund. Zuvor war er von 2014 bis 2022 als Landesrat für Umweltschutz und Nahverkehr Mitglied der Vorarlberger Landesregierung.
Agenda: Der ehemalige Sozialarbeiter will eine soziale Umverteilung durch Vermögenssteuern und weitere Gesundheitsreformen.
Im Variantenmanagementplan gibt es keine Zahlen als Grenzwerte für Verschärfungen. Ab wann kommen solche?
Der Variantenmanagementplan ist kein Stufenplan. Das ist keine Skala, auf der ab einem gewissen Grenzwert ein Schalter umgelegt wird. Und ich habe die Verfassung zu beachten – Gott sei Dank. Jede verordnete Maßnahme ist eine Einschränkung der persönlichen Freiheit. Der Maßstab ist, wenn das Gesundheitssystem Gefahr läuft, nicht mehr zu funktionieren.
Aber alle Informationen, von Infektionszahlen bis Hospitalisierung, müssen doch einen Grenzwert haben?
Nein. Das ist ein Puzzlespiel der Bewertungskriterien. Ich kann niedrige Spitalsbelagszahlen haben, aber gleichzeitig eine Virusvariante, die hochansteckend und gefährlicher ist. Das wäre ein Anlass zu reagieren.
Eine Säule ihres Pandemiemanagement ist das Hospitalisierungsregister, in das Krankenhäuser ihre Corona-Kranken eintragen. Sie haben im Frühsommer mit ihrem Ärger nicht hinterm Berg gehalten, dass das nicht funktioniert hat, dass viele säumig sind. Wie sieht das jetzt aus?
Wir gehen Ende des Monats erstmals mit Auswertungen online.
Sie betonen immer, dass sie auch Sozialminister sind. In Österreich sind rund 1,3 Millionen Menschen armutsgefährdet, ein Viertel davon sind Kinder. Wird die soziale Krise in Österreich schlimmer als die Corona-Krise?
Ich hoffe es nicht, aber sie hat das Potenzial dazu. Und das wäre in den Auswirkungen noch deutlich dramatischer. Deshalb müssen wir die Grundbedürfnisse der Menschen absichern: Wohnen, Energie und Lebensmittel. Also müssen wir uns jetzt fragen: Wie gestalten wir die mögliche Abschöpfung der Übergewinne, wie können Energiekosten niedrig bleiben? Auch die Lebensmittelpreise sind zum Teil nicht nachvollziehbar. Bei den Mieten ist es schwieriger. Ich nenne es beim Namen: Hier haben wir seit Jahren spekulative Blasen am Wohnungsmarkt.
Welche Maßnahmen wollen sie gegen den überhitzen Wohnungsmarkt setzen?
Wir brauchen mehr gemeinnützigen Wohnbau, vor allem außerhalb von Wien. Das haben die Bundesländer in weiten Teilen vollkommen vernachlässigt. Wir brauchen andere Flächenwidmungskompetenzen. Die bei den Gemeinden zu lassen, halte ich für einen Irrtum der Geschichte.
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