Philosoph Anders Indset: "Nur Egoisten lassen sich nicht impfen"
Er passt in keine Normen. Er könnte genauso gut ein Hauptdarsteller in der Netflix-Serie „Vikings“ sein. Aber wie sein Vorname schon verrät, ist er tatsächlich anders: Mit Anfang 30 steigt der Norweger Anders Indset aus der Leistungsgesellschaft aus und beschließt, die Welt verstehen zu wollen. Heute, mit 42, ist er einer der bekanntesten Vordenker und bezeichnet sich als Wirtschaftsphilosoph. Indset bietet eine neue Perspektive auf die „Kunst des Denkens“, indem er die Philosophie der Vergangenheit mit der Technologie von morgen verbindet.
KURIER: Herr Indset, Sie schreiben in Ihrem neuen Buch „Das infizierte Denken“, dass die Weltgemeinschaft gescheitert sei, die Pandemie zu bewältigen, weil wir mehr Angst vor der Impfung als vor dem Virus haben. Woher kommt in einer hochtechnologisierten Welt die paradoxe Skepsis gegenüber der Wissenschaft?
Anders Indset: Es gibt kein vernünftiges Argument gegen die Impfung. Die klügsten Köpfe haben die Impfung entwickelt, mit den modernsten Methoden, die vor 50 Jahren noch nicht existierten. Der einzige Grund, warum man sich nicht impfen lässt, ist ein egozentrischer Gedanke. Nur Egoisten lassen sich nicht impfen. Zu sagen: „Ich bin Egoist in dieser Welt und trage nichts zum Allgemeinwohl bei“, wäre wenigstens eine ehrliche Antwort. Wenn aber Impfverweigerer mit der individuellen Freiheit argumentieren, fehlen mir die plausiblen Argumente. Denn wir alle haben eine Verantwortung, die lautet: Wenn wir unsere individuelle Freiheit genießen wollen, müssen wir ins Allgemeinwohl einzahlen.
Ist nicht das Luxus-Gesundheitssystem in Österreich und Deutschland ein Grund, der den Impfskeptikern die Entscheidung leicht macht?
Ja, viele haben es sich bequem gemacht und befinden sich in einer Gefangenschaft der Selbstverständlichkeiten. Diese Menschen denken sich, wenn sich genug andere den Stich geben, muss ich mich nicht impfen lassen. Der Umgang mit Krisen ist langsam, reaktiv und wie ein Brennglas für unser infiziertes Denken. In einigen Ländern wie Norwegen, Schottland oder Dänemark ist die Impfquote trotzdem höher als in Mitteleuropa. Was unterschiedet diese Länder? Sie sind nicht so extrem vom Donald-Trump-Fake-News-Phänomen – heute so und morgen so – und der Absolutheit der Twitter-Headlines geprägt. In diesen Ländern ist die Bereitschaft für den kollektiven Einsatz größer. Sie sagen sich: „Wir tun es für alle“.
Wie schaut der Ausweg aus dem infizierten Denken aus?
Wir rücken mehr zusammen, Kulturen vermischen sich, die Sprachen werden ähnlicher und dennoch sind wir gefühlt gespaltener als je zu vor. Das bedeutet, wir brauchen nicht eine Wissensgesellschaft, denn Wissen bedeutet nicht Verstehen. Wir brauchen viel mehr eine Gesellschaft des Verstandes. Also die Fähigkeit, mit Informationen umzugehen. Kollaboration, Ko-Kreation, Diskussion, Navigieren, Sachen verstehen, Interpretation – das sind wichtige Fähigkeiten, die die Menschen durch die Verabsolutierung zunehmend verlernen. Das heißt, wir müssen unsere Bildungssysteme anpassen und das Grundprinzip der Bildung in unsere Schulen bringen: Lernen zu lernen.
Sie sprechen davon, dass wir uns in einer Gefangenschaft von Selbstverständlichkeiten befinden. Mit Bequemlichkeit kann man nicht den Klimawandel schaffen. Können wir Krisen überhaupt noch bewältigen?
Am Freitag vor der deutschen Wahl ist ein großer Klimastreik angesetzt. Ich bin mir sicher, der Klimastreik wird kontraproduktiv für die Grünen sein. Die Menschen werden aus Bequemlichkeit die CDU/CSU wählen. Die Stabilität und das Bewahren des Ist-Zustandes ist ihnen wichtiger. Deswegen sage ich: Die Agenda für Limitieren und Regulieren ist nicht ausreichend bei einer egozentrischen Menschheit. Es ist schon wichtig, dass wir uns von der Dekadenzgesellschaft verabschieden. Canapé und Chardonnay kann es nicht zu jeder Mahlzeit geben. Es ist auch wichtig, dass wir eine perfekte Kreislaufwirtschaft schaffen. Der dritte Punkt ist eine Öko-Utopie statt einer Ökohysterie. Werden wir aufhören, mit dem Flugzeug unterwegs zu sein? Nein, werden wir nicht. Deswegen müssen wir energiebefreite Flugzeuge herstellen. Dafür benötigt es aber milliardenhohe Investitionen und neue Denkanstöße – eben kreative Zerstörung. Wenn wir die Flugzeuggesellschaften mit Regulierungen überhäufen, werden sie kein Geld für Innovationen haben. Es ist wie in einer Beziehung: Wenn man seinen Partner mit der Brechstange verändern will, wird es nicht funktionieren. Es braucht viele offene Gespräche und den Glauben an etwas Besseres.
Von der Politik fordern Sie, dass sie vom Verwalten ins proaktive Gestalten kommen muss. Davon sind wir weit entfernt, wenn in Deutschland offenbar jener Kandidat die Wahl gewinnen wird, der die wenigsten Fehler macht. Warum wählen Bürger keine Visionäre?
Der Bundestagswahlkampf hat etwas von Mikado: Wer sich zuerst bewegt, verliert. Sobald die Kandidaten etwas unternehmen, stürzen die Umfragewerte in den Keller. Die allgemeine Negativität schließt das Konstruktive aus. Wir wählen also gegen etwas und nicht mehr für etwas. Eine Parteiendemokratie, in der Parteien eine Position beziehen sollen, ist nicht kompatibel mit der Welt, die wir heute geschaffen haben. Wir brauchen eine neue Digitale Demokratische Republik. Künftig werden wir nicht mehr Parteien wählen, sondern Menschen. Mehr direkte Demokratie. Ich bin davon überzeugt, dass wir bereits 2033 den ersten parteiunabhängigen Kanzler begrüßen werden. So schnell wird dieser Wandel passieren. Dieser Trend zeigt sich schon bei den Bürgermeisterwahlen – hier sind immer mehr rebellische Bürgermeister parteienlos. Sie haben die Nähe zu den Menschen. Diese Lokalität schließt die Globalisierung nicht aus. Aus dieser Entwicklung wachsen stärkere Politiker mit klaren, überregionalen Visionen.
Sie waren Profi-Handballer und Unternehmer und haben keine akademische Ausbildung. Wie wird man trotzdem Philosoph?
Ich habe keinen Beruf, sondern das Privileg, jeden Tag aufzuwachen und lernen zu dürfen. Meine Herleitung zur Philosophie ist simpel: Die Technologie ist die Kunst, Recht zu haben – zu optimieren. Die Philosophie ist die Kunst, Unrecht zu haben. Das ist meine Sinngebung. Ich war Hardcore-Kapitalist – mein Leben war getrieben. Höher, schneller und immer mehr Geld verdienen. Trotz des Erfolgs habe ich nichts gespürt. Vor zehn Jahren habe ich mich gelöst von etwas, was mich nicht glücklich gemacht hat. Ich bin dann die egozentrische Reise angetreten, die Welt besser zu verstehen. Ohne Output, Ziel, Geschäftsfokus. Mein Fokus ist mein Input.
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