Österreichs EU-Beitrittspoker: „Bis zum Schluss Spitz auf Knopf“

Franz Fischler
Franz Fischler im Interview: Warum Klima beim EU-Beitrittspoker die Nerven schmiss; wen Schüssel zum „Team-Kaplan“ machte

An einen Brüssel-Besuch in Österreichs grauer EU-Vorzeit erinnert sich Franz Fischler besonders gut. 1986 überredete er seinen Chef, Tirols Landwirtschaftskammerpräsidenten, nach Brüssel zu fahren, „damit wir wissen wovon wir reden“. Denn im Vorfeld des EU-Beitritts ist in der heimischen Bauernschaft die Sorge, von der EU erdrückt zu werden, riesengroß. Als Fischler 1989 Landwirtschaftminister wird, findet er sich genau zwischen diesen Fronten wieder: den harten EU-Bedingungen und den großen Bedenken zu Hause.

KURIER: 1994 drohte der EU-Beitritt schon beim Verhandlungsstart an Agrarfragen zu scheitern. Warum?

Franz Fischler: Von Anfang an war klar: Man kann den Landwirten nicht zumuten, dass von einem Tag auf den anderen die Preise auf das deutlich niedrigere EU-Niveau abfallen. Daher haben wir schon im Vorfeld Übergangsregelungen mit dem Landwirtschaftskommissar verhandelt. Wir waren uns schon ziemlich einig, wie das gehen könnte. Daher sind wir in der Erwartung nach Brüssel gefahren, dass es jetzt nur noch um technische Details ginge. Doch plötzlich ließ uns Außenkommissar Hans van den Broek mitteilen: Es gibt keine Übergangsbestimmungen. Wir fielen aus allen Wolken. Der Herr Agrarkommissar war für uns auf einmal unauffindbar. Sein wichtigster Mitarbeiter hat mich mit den Worten zur Seite genommen: „Bei uns haben jetzt die Ayatollahs das Sagen.“ Ich habe erwidert: „Das mag schon sein. Aber wir haben jetzt zwei Jahre über Übergangsregelungen verhandelt, und es ist bei den Landwirten eine große Erwartungshaltung entstanden. Was soll ich denen jetzt sagen?“ Er hat erwidert, das wisse er auch nicht, er könne mir nur einen Rat geben: „Reißen Sie denen soviel Geld heraus, wie Sie können.“

Wie haben die Bauernvertreter das aufgenommen?

Sie haben die Welt nicht mehr verstanden. Niemand hat eine Idee gehabt, was man jetzt tun sollte. Ich habe dann mit meinem Mitarbeiter eine Nacht lang an einem Alternativkonzept gearbeitet: Viel mehr Direktzahlungen für Bergbauern und andere benachteiligte Betriebe, Zahlungen für umweltpolitische Leistungen, ein großes Investitionsprogramm und vieles andere mehr. Als Erstes habe ich am nächsten Tag mit Finanzminister Ferdinand Lacina gesprochen. Es war klar, dass solche Leistungen national kofinanziert werden müssen. Lacina hat das Problem erkannt und, Hochachtung, das Geld sofort zugesagt. Da ging es immerhin, damals noch in Schilling, um einige Milliarden. Auf dieser Basis sind wir dann sehr rasch zu einem Ergebnis gekommen.

Der Sprung ins kalte EU-Wasser war für die Landwirtschaft dann aber ein Gesundbrunnen?

Ja, denn rückblickend wäre eine lange Übergangszeit der Modernisierung der Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie im Wege gestanden. Uns war voll bewusst, dass wir nicht über den Preis wettbewerbsfähig sein können, sondern nur über höhere Qualität. Wir haben daher damals in kurzer Zeit, beginnend mit dem AMA-Gütesiegel, vieles erfunden, was noch heute gültig ist. Es ist auf diese Weise schnell gelungen, Exportmärkte in der EU aufzubauen. Ich habe später als Kommissar die Direktzahlungen ausgebaut. In den besten Zeiten hat Österreich fünfmal so viel bekommen wie der Durchschnitt der EU-Länder.

Wie nah am Platzen war der EU-Beitritt am Ende wirklich?

Das größte Problem vor allem mit den Franzosen war bis zum Schluss der bestehende Transitvertrag, der die Lkw-Fahrten in Österreich zeitlich und mengenmäßig limitierte. Die Franzosen haben behauptet, dass künftig viele Laster den Umweg durch den Montblanc-Tunnel nehmen würden, weil das dort billiger sei als in Österreich. Unser Problem war zudem, dass in Tirol Landtagswahlkampf war, und der ÖVP-Landeshauptmann getrommelt hat: „Wenn wir in Brüssel nicht imstande sind, den Transitvertrag zu verteidigen, brauchen wir gar nicht heimkommen.“ Das war dann bis zum Schluss Spitz auf Knopf. Es ist Kommissionspräsidenten Jaques Delors zu verdanken, dass er einen Kompromiss gefunden hat, mit dem alle leben konnten.

Die Franzosen wollten tatsächlich einen weiteren „deutschen Staat“ in der EU verhindern?

Natürlich hat das eine Rolle gespielt. Die Franzosen haben bis zum Schluss geglaubt, dass der Beitritt Österreichs nicht zustande kommt. Mock hat immer wieder versucht, Parteichef Chirac anzurufen, weil er ihn aus der EVP gut gekannt hat. Es hat zwei Tage gedauert, bis der Herr Chirac bereit war, Mock am Telefon anzuhören. Das Gespräch hat dann nichts bewirkt, sodass Mock so weit war, zu sagen: „Das lassen wir uns nicht mehr gefallen. Wir fahren nach Hause.“ Er hatte schon ein ORF-Interview gegeben, wo er das verkündet hatte, dass man Österreich in der EU nicht haben wolle. Allerdings hat dieses Interview nie das Licht der Welt erblickt. Kanzler Vranitzky und Vizekanzler Busek waren von Wien aus in ständigem Kontakt mit uns. Busek hat zu Mock in seiner unnachahmlich direkten Art gesagt: „Heimfahren, das geht nicht.“

Nach Alois Mock schmiss auch Viktor Klima die Nerven?

Die drei Tage und Nächte, die die Verhandlungen dauerten, waren vor allem deshalb zermürbend, weil sie meist aus Warten bestanden haben, bis sich die zwölf Herren Außenminister auf der EU-Seite auf etwas einigen konnten, was wir zu akzeptieren hätten. Daneben hat die Gerüchteküche gebrodelt. Dann ist auch der zunehmende gesundheitliche Verfall des Alois Mock sichtbar geworden. Dem Landwirtschaftskammerpräsidenten Schwarzböck sind vor lauter Ärger wegen der Agrarverhandlungen in der Nacht zwei Äderchen im Auge geplatzt, und er ist am nächsten Morgen mit blutunterlaufenen Augen dahergekommen. Viktor Klima hat am Schluss unter Tränen festgestellt, dass seine politische Zukunft zu Ende sei, er werde zu Hause zurücktreten müssen. Ziemlich cool geblieben sind Ferdinand Lacina, Wolfgang Schüssel und ich.

Wie haben Sie die flatternden Nerven wieder eingefangen?

Wir haben versucht, die Atmosphäre aufzulockern, indem wir verschiedene „Funktionen“ erfunden haben. Wolfgang Schüssel ist da ja immer sehr kreativ. Wir haben ihn zum Generalsekretär unserer Truppe ernannt; Hans Mayr (Wiener SPÖ-Finanzstadtrat) zum Team-Kaplan, weil er wie ein Pfarrer alle aufmunterte; Wirtschaftskammerchef Leo Maderthaner zum Wirten, der für uns Pizza eingekauft hat. Wir haben uns unterstützt und nicht den Humor rauben lassen.

Größter Fürsprecher für Österreich war Deutschland?

Klaus Kinkel hat uns sehr geholfen, aber CDU-Kanzler Helmut Kohl hat seinem FDP-Außenminister nicht ganz getraut und hat seinen Kabinettschef als Aufpasser geschickt. Mit dem Auftrag, er soll ihn anrufen, wenn Kinkel nicht das macht, was wir wollten. Das hat auch zu kuriosen Situationen geführt wie der, dass Kinkel aus der Ministersitzung herausgestürzt kam und brüllte: „Kann mir hier jemand sagen, was Mutterkühe sind?“ Und dann hat er gesagt: „Herr Fischler, sind Sie mit 120.000 Mutterkuh-Rechten zufrieden?“ – Dann habe ich gesagt: „Na ja, das kann ich akzeptieren“. Denn wir wollten mit nur 60.000 in die Verhandlung gehen.

Haben Sie mit 66 Prozent Ja zum EU-Beitritt gerechnet?

Nein, im Gegenteil. Wir waren hochnervös und bis zum Schluss nicht sicher, ob das positiv ausgeht. Auch in der letzten Umfrage vierzehn Tage vor der Abstimmung haben wir noch keine Mehrheit gehabt. Den größten Effekt haben dann die Sondersendungen im ORF gehabt. Die letzte war dem Agrarthema gewidmet, und die hat nicht nur bei den Bauern eingeschlagen. Wir waren ein bissel cleverer als die EU-Gegner und haben die Bauernfunktionäre, die an der Publikumsdiskussion teilgenommen haben, am Tag vorher eingeladen und Ihnen erklärt, was sie im Fernsehen tun sollten. Das hat gut funktioniert. Auch Haider hat mit seiner überzogenen Kritik ungewollt ein bissel geholfen: Mit den Läusen im Joghurt und der Blutschokolade hat er sich völlig unglaubwürdig gemacht.

Wie würde heute eine EU-Abstimmung ausgehen?

Angesichts der internationalen Lage würde ich ein ähnliches Ergebnis wie damals erwarten. Die Bauern können sich gar nicht mehr vorstellen, wie es wäre, wenn wir keine Agrarprodukte exportieren könnten.

Die Angst vor noch mehr EU-Binnenmigration würde bei uns nicht so ziehen wie zuletzt in England beim Brexit?

Die Briten haben den Fehler gemacht, den Arbeitsmarkt nach der großen Erweiterung auf einmal zu öffnen und auf uns mit dem Finger gezeigt, weil wir Übergangsfristen von bis zu sieben Jahren verlangt haben. Statt der erwarteten 70.000 Polen haben sie dann aber 700.000 Polen im Land gehabt.

Wird die EU nach dem Brexit noch weniger oder bis 2030 mehr Mitglieder haben?

Es wird eine EU 27+ sein. Das Plus wird aber nicht sehr groß sein: Montenegro und Mazedonien sind aussichtsreiche Kandidaten. Albanien und Serbien haben Chancen, sofern das Kosovo-Problem gelöst wird. Bosnien-Herzegowina wird schwierig bleiben. Und die Türkei wird nicht dabei sein.

Franz Fischler
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