ÖGB will von Streik noch nichts wissen

Warnstreik von Vorarlberger Lehrern 2002: Gehen die Pädagogen jetzt österreichweit auf die Straße?
Die Streikpläne der Lehrer spalten den Gewerkschaftsbund. Mitglieder drohten, bei Ja auszutreten

Jetzt haben die Lehrer die Lizenz von ganz oben. Der ÖGB-Vorstand hat „Kampfmaßnahmen“ gegen das neue Lehrerdienstrecht gebilligt. Es war ein Akt der Solidarität, nicht der Überzeugung. In anderen, schlechter gestellten Berufsgruppen – von Metallern bis zu Bauarbeitern – missfällt der Aufruhr der Pädagogen. Der Tenor: „Bei uns verdienen Leute weniger oder verlieren ihren Job. Und die Lehrer machen einen Zirkus, obwohl sie das neue Dienstrecht gar nicht betrifft (gilt erst ab 2019).“ Führenden Gewerkschaftern wurde gedroht, dass ganze Belegschaften aus dem ÖGB austreten, sollte ein Streik genehmigt werden.

Semantischer Dreh

Eine schwierige Situation für Frontmann Erich Foglar in der Sitzung am Donnerstag. Aus der er sich so zu retten versuchte: „Streik steht nicht in der Resolution“, die die Beamtengewerkschaft verfasst hat. Tatsächlich sind darin „gewerkschaftliche Maßnahmen in allen notwendigen Intensitäten“ vermerkt. Nur: Das ist Usus in derlei Fällen – Streik ist impliziert. Beamtenboss Fritz Neugebauer selbst hat am Mittwoch kundgetan, dass das „bis zum Streik, zur Arbeitsniederlegung gehen“ könne.

Foglars semantischer Dreh hat gewirkt. Bau/Holz-Gewerkschafter Josef Muchitsch, der sich tags zuvor gegen einen Streikbeschluss verwahrt hatte („Die Lehrergewerkschaft hat den Bogen überspannt“), unterstützte gestern die Resolution – „weil das Wort Streik nicht vorkommt“. Auch für Neugebauer ist „Streik im Moment kein Thema“.

Scharfmacher

Er weiß, dass sich das Verständnis für die Lehrer auch bei den restlichen Staatsbediensteten in Grenzen hält. Scharfmacher bei den Pädagogen sind Eckehard Quin von der AHS- und Jürgen Rainer von der BMHS-Gewerkschaft. Am 5. Dezember gibt es die erste Protest-Aktion – Dienststellenversammlungen an diesen Schulen. Zumindest zwei Stunden sollen sie dauern. Quin: „Das ist bloß der erste Schritt in unserem gemeinsamen Kampf“ gegen die neuen Dienst- und Gehaltsregeln, die die Regierung am Dienstag gegen den Willen der Standesvertreter beschlossen hat.Was haben die Pflichtschullehrer vor? „Wir werden vorerst die Kollegen über das Dienstrecht informieren“, sagt deren Gewerkschaftschef Paul Kimberger dem KURIER. Kommenden Donnerstag werde das weitere Procedere festgelegt. Wobei Kimberger beteuert: „Wir werden den Konflikt nicht auf dem Rücken der Kleinsten austragen.“ Die Zurückhaltung rührt auch daher, dass Pflichtschullehrer von den neuen Regeln profitieren. Die künftigen werden anfangs viel mehr verdienen als die jetzigen.

Kimberger vertritt nicht nur Volks- und Hauptlehrer, er ist Boss aller Lehrergewerkschaften – damit in einem Zwiespalt. Hätte er andernfalls schon zugestimmt? Nein, weil auch er für seine Pflichtschul-Klientel noch etwas begehrt: „Es muss für die 40.000 Lehrer der 4. Volksschulklassen, die Schularbeitsfächer unterrichten, eine Zulage geben – wie für die Kollegen in AHS und BMHS.“

Kimberger und Rainer setzen nun auf die Parlamentarier. Diese können das von der Regierung formulierte Werk modifizieren. Rainer warnt sie, es zu belassen, wie es ist: „Ein Streik kommt für mich infrage, wäre auch berechtigt, um die Anliegen durchzubringen.“ Behandelt wird die Causa im Verfassungsausschuss, dem SP-Mandatar Peter Wittmann vorsitzt. Am 17. Dezember soll das Gesetz im Nationalrat beschlossen werden.

Hoffnung Hohes Haus

Im Sinne der Gewerkschaft wird es vermutlich auch da nicht sein. Rote und Schwarze bleiben dabei: An den „Eckpunkten“ (höhere Einstiegsgage, weniger gegen Ende der Laufbahn; Arbeitszeit: künftig 24 statt wie derzeit 17 bis 22 Stunden pro Woche) ändere sich nichts. Lediglich über Details könne geredet werden. Selbst wenn einige Arbeitnehmervertreter im SPÖ- und im ÖVP-Klub dagegen stimmen – eine Mehrheit für das neue Dienstrecht ist gesichert.

Die Stimmung gegen die Lehrer scheint zu kippen: Sind sie Betonierer, auf den eigenen Vorteil bedacht, reformresistente Proponenten des "Weil's immer schon so war"?

Oder kämpfen sie selber – hoch engagiert, aber auf verlorenem Posten – gegen ein System, das längst überholt ist, dessen Strukturerhalter sie nie sein wollten?

Wir lassen die Betroffenen hier selber zu Wort kommen. Sind Sie Lehrer? Möchten Sie Ihrer Meinung Gehör verschaffen? Melden Sie sich!

Sollen sie mehr Zeit in den Klassen verbringen? Sollen sie am Anfang ihrer Schul-Karriere allenfalls mehr verdienen? Und was, wenn die Gewerkschaft zum Streik aufruft – was tun sie dann, die Lehrer?

In den vergangenen Tagen und Wochen wurde viel über und wenig mit den heimischen Pädagogen gesprochen. Für den KURIER Anlass, sich umzuhören – wie steht’s um die Stimmung in den Konferenzzimmern?

Wut: Kein anderer Begriff passt besser auf die Befindlichkeit in der HTL Ettenreichgasse in Wien-Favoriten. 130 Lehrer kümmern sich hier um fast 1000 Schüler, unterrichtet werden unter anderem Elektrotechnik, Maschineningenieurwesen und Mechatronik. Das neue Lehrerdienstrecht bringt die Professoren in Rage. „Ich glaube, ein Streik wird in der Kollegenschaft von allen mitgetragen werden“, sagt etwa Ernst Wolrab, die Kollegen nicken mit ernster Miene. „Schauen Sie, alle Schul-Reformen in den vergangenen Jahren haben das System verschlechtert“, befundet Otto Reisenauer.

Dass sie das neue Dienstrecht gar nicht tangiere, weil es nur für Junglehrer ab 2019 gelte, bezweifeln die erfahrenen Lehrkräfte: „Das stimmt ja so nicht“, sagt Wolrab. Er ist sich sicher, dass spätestens dann auch die bestehenden Dienstverträge „angepasst“ werden, dass sie dann noch mehr unterrichten müssen, für noch weniger Geld. Dabei seien die Arbeitsbedingungen schon jetzt schwierig. Es fehlen Arbeitsplätze, Schulpsychologen, Sozialarbeiter. Eine Kollegin, die derzeit 250 Schüler unterrichtet, wundert sich, wie künftige Lehrer ihr Pensum schaffen sollen. „Für mich wären das 50 Kinder zusätzlich und damit ein Drittel mehr Arbeit“, sagt Nina Grabmaier.

Falsches Thema

Tatsächlich geht es vielen Lehrer nicht bloß um jene drei bis fünf Stunden, die sie länger unterrichten sollen.

„Das ist nicht das Thema“, sagt Resmarie Musil. Die Pädagogin unterrichtet seit vierzig Jahren an der Hietzinger AHS in der Wenzgasse. Sie mag ihren Job und eigentlich könnte sie es sich leicht machen – das neue Dienstrecht wird sie nicht mehr treffen. „Aber die jungen Kollegen und die Schüler würden darunter leiden.“

Warum die Schüler? „Kommt das neue Dienstrecht, hätten wir sofort 30 Kollegen weniger. Die Verbleibenden müssten mehr Klassen übernehmen.“ Weniger Professoren für gleich viele Schüler? „Da kann die Qualität nicht steigen. Deshalb bin ich gegen das neue Dienstrecht.“

Alexander Fritz und Stephanie Hirschegger sehen das ähnlich. Die beiden unterrichten Deutsch und Englisch, arbeitsintensive Fächer. Auch sie lieben ihren Job, das spürt man. Mit der öffentlichen Debatte können sie aber wenig anfangen. „Ich würde sofort den ganzen Tag in der Schule sitzen, wenn ich Schreibtisch und Computer hätte und um sechs Uhr nach Hause gehen kann. Das Problem ist nur: Dann würde meine Arbeit einfach nicht gemacht.“

Hand aufs Herz, Herr Fritz, arbeiten Sie wirklich so viel?

„Die Zeit in der Klasse sind 30 Prozent dessen, was ich tue. Ich habe rund 120 Schüler, das sind 300 bis 400 Texte im Monat für die Korrektur. Ich sitze ausnahmslos jedes Wochenende bei der Arbeit. Ich beschwere mich nicht, aber mehr geht nicht. Nicht, wenn wir die Qualität halten wollen.“

Dazu muss man wissen: Englisch-Unterricht heißt für Fritz zum Beispiel, dass Kurzfilme gedreht und Interviews nachgestellt werden. „Was wir heute mit den Schülern machen, das kann man mit dem Unterricht vor 20 Jahren gar nicht vergleichen.“

Womit wir beim Schlafsack von Stephanie Hirschegger wären. Der liegt von der „Lesenacht“ noch unter ihrem Sessel im Konferenzzimmer. Schüler und Lehrer haben im Haus übernachtet, es wurde vorgelesen, morgens gemeinsam in der Kantine gefrühstückt. „Wir versuchen wirklich die Schüler für den Stoff zu begeistern“, sagt Hirschegger. „Aber dafür muss man uns auch die nötige Zeit geben.“

Josef Kraus ist nie um klare Worte verlegen. Der Gymnasiallehrer aus Bayern und Vorsitzende des deutschen Lehrerverbands sieht unser Bildungssystem durch die ständigen Reformdebatten in Gefahr. Heute spricht er bei einer Veranstaltung des Bundes-Schulgemeinschaftsausschuss zum Thema „Was macht chule gut?“ Ein KURIER-Gespräch über Qualität im Bildungssystem.

KURIER: Wie bewerten Sie das Schulsystem in Österreich und Deutschland? Was macht die Schule gut?
Josef Kraus:
Sie leistet mehr als es die Politik mit ihrer ausgeprägten Reformitis zulässt. Diese dauernden Reformen sind in beiden Ländern eines der Hauptprobleme. Die Schulen haben fast keine Chance mehr, sich zu konsolidieren. Zum Glück haben sie eine solide Substanz, so dass es immer noch einigermaßen rund läuft. Das gilt sowohl für das Leistungsergebnis als auch für die Persönlichkeitsbildung, die in der Schule stattfindet. Das sage ich, obwohl viele unsere PISA-Ergebnisse schlecht reden. Angesichts der Umstände, die bei uns erheblich schwieriger sind als beim PISA-Sieger Finnland, stehen wir gut da.

Sie sprechen die heterogenere Schülerschaft bei uns an?
Wir haben in manchen Regionen einen Migrantenanteil von 30, 40 bis 60 Prozent. In Finnland liegt er bei zwei Prozent. Das skandinavische Land hat auch sonst paradiesische Schulzustände: 18 Schüler pro Klasse; Förderlehrer, die sich um die drei schwächsten Schüler kümmern; Gesundheitstrainer, Psychologen etc. Das hätte ich bei uns auch gerne.
Trotzdem sage ich ohne Häme: Im Vergleich zu Finnland haben wir in den deutschsprachigen Ländern ein entscheidendes Plus: Die Jugendarbeitslosenquote liegt zwischen 3 und 8 Prozent. In Finnland liegt sie bei 20 Prozent. Da frage ich mich schon: Was ist das für ein Schulsystem, das die jungen Menschen nicht auf das Arbeitsleben vorbereitet?

ÖGB will von Streik noch nichts wissen
Josef Kraus, Gymnasiallehrer

Was machen wir besser?
Das ist das Ergebnis struktureller Vorteile: Das duale Ausbildungssystem und die berufsbildenden höheren Schulen sind ein Garant für eine hohe Beschäftigung.

Unbestritten bleibt: Jeder fünft Schulabhänger kann nicht sinnerfassend lesen. Da versagt die Schule doch.
Das ist in erster Linie nicht das Versagen des Bildungssystems, sondern das Ergebnis einer sehr liberalen Migrationspolitik. Wobei ich einschränken will: Migrant ist nicht gleich Migrant. Wir haben erhebliche Probleme mit Schülern aus Ex-Jugoslawien, den arabischen Ländern und der Türkei. Keine Probleme gibt es mit Kindern aus EU-Staaten. Vietnamesen schneiden besser ab als deutsche Schüler.

Aber diese Kinder leben nun einmal hier. Die Schule muss dieser Tatsache Rechnung tragen.
Ja, sie muss aber auch von den Familien mehr verlangen. Z.B., dass die Familien bereit sind, Deutschkurse zu machen. Die Schule kann ebenso einiges verbessern: Wir haben zu wenig Angebote, Deutsch als Fremdsprache zu unterrichten. Da brauchen wir Spezialisten. Die zweite Schraube, an der man drehen muss, ist die Bildungsberatung. Die Möglichkeiten, Bildungsangebote zu nutzen, kommen bei einigen Familien nicht rüber. Gut wäre, wenn die Medien, die diese Familien nutzen, einen Beitrag dazu leisten.

Man muss also nur mehr informieren?
Nicht nur. Man muss man sich ordnungspolitisch überlegen, ob man bestimmte soziale Leistungen an die Bereitschaft koppelt, Bildungsangebote anzunehmen.

Es gibt zu wenig Lehrer. Wie schafft man es, gute Pädagogen für den Beruf zu gewinnen?
Eine Ursache des Lehrermangels ist, dass unsere Gesellschaften Probleme mit dem Lehrerberuf an sich haben. Es war lange Zeit Mode, Lehrer auf Stammtischebene madig zu machen. Gerhard Schröders „faule Hunde“ ist ein Beispiel von vielen. Mittlerweile hat sich das Image der Lehrer laut Meinungsforschungsinstitut deutlich verbessert, weil man sieht, dass das ein Knochenjob ist.

Was muss die Politik tun?
Die Bildungspolitiker haben bei Bedarfsplanung völlig versagt. Nichts lässt sich solider errechnen als der Lehrerbedarf. Schule ist ja nicht irgendwelchen Konjunkturzyklen ausgesetzt. Es gibt feste Größen: die Altersstruktur der aktiven Lehrerschaft, die Zahl der Schüler, die Stundenverpflichtung der Lehrer sowie die Klassengrößen. Aufgrund dieser Zahlen hätte man steuern können. Es gab keine solide Personalplanung.

Was also tun?
Es braucht attraktive Quereinsteigerprogramme: moderate Fortbildungsanforderungen und gute finanzielle Rahmenbedingungen.

Nochmals zum Thema: Was macht Schule gut? Welche Faktoren sind nötig, damit Schule erfolgreich ist?
Es gibt vier Grundsätze, die jeder Bildungspolitiker beherzigen sollte: Die Schule muss sich wieder auf das Prinzip besinnen, dass sie keine Anstalt zur Herstellung von Gleichheit, sondern zur Förderung von Individualität ist. Schule muss am Leistungsprinzip orientiert sein. Sie kann nicht nur Spaß- und Begeisterungspädagogik bieten. Schule muss konkretes Wissen und Können vermitteln und nicht nur hohle Kompetenzen. Schule muss Persönlichkeits- und Kulturbildung vermitteln und nicht nur Wissen, das sich in PISA-Tabellen abbildet.

Bleibt für Persönlichkeitsbildung überhaupt noch Zeit? Bildungsstandards oder Zentralmatura setzen die Schüler unter enormen Leistungsdruck.
Die großen schulpolitischen Sünden sind der Verwertbarkeitswahn, der Messbarkeitswahn, der Nützlichkeitswahn und Beschleunigswahn. In dem Moment, in dem ich Unterricht nur noch auf PISA-Ranking-Tabellen ausrichte, bleibt keine Zeit für Persönlichkeitsbildung. Die Schule braucht diese Zeit und Inhalte in den Lehrpläne, die persönlichkeitsstiftend wirken. Das bleibt aber außen vor, weil wir uns sehr an MINT-Fächern orientieren. Geschichtliche, ethische oder literarische Bildung sind Grundlagen für Persönlichkeitsbildung und werden nach und nach vernachlässigt.

Josef Kraus hält heute, Donnerstag, 21. 11.2013, 18 Uhr in der HBLA Straßergasse 37–39, 1190 Wien, Eintritt frei, Anmeldung unter veranstaltung@b-sga.at

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