Nico Marchetti (35) ist seit Feburar 2025 ÖVP-Generalsekretär und Bildungssprecher der ÖVP. Von 2008/2009 war der gebürtige Wiener Bundesschulsprecher. Im KURIER-Interview erzählt er von seiner Schulzeit in einer Laptop-Klasse, warum KI schon längst Teil des Schulalltags ist und die Regierung sich noch auf kein Social Media-Verbot geeinigt hat.
KURIER: Sie waren 2008/2009 Bundesschulsprecher. Gibt es etwas, dass sich seither maßgeblich in der Schule zum Besseren gewandt hat?
Nico Marchetti: Einiges! Alleine, wenn ich an die Digitalisierung und digitale Endgeräte denke oder an die Integration und das Einführen von Deutschförderklassen. In der Problemanalyse ist die gesamte Parteienlandschaft mittlerweile sehr ähnlich bis deckungsgleich. Es gibt keine Parlamentspartei, die sich zum Beispiel gegen Deutschförderung aussprechen würde.
Das eine ist die Analyse, das andere, wie man den Problemen Herr wird beispielsweise in Klassen, in denen das Gros nicht Deutsch spricht oder kann.
Hier treffen sich die Themenfelder Integration und Schule – und bei beiden hat die Regierung gerade Dinge umgesetzt. Wir haben den Familiennachzug gestoppt und die Orientierungsklassen beschlossen.
Seit Jahrzehnten wird über die tägliche Turnstunde gesprochen, wird das Fach politische Bildung disktutiert. Wird irgendetwas davon jemals umgesetzt werden?
Es stimmt: Gewisse Themen haben im Bildungsbereich Tradition. Die Diskussion, welche Schulfächer es geben soll und welche nicht, die wird nie beendet sein. Abgesehen davon gibt es durchaus neue Fächer wie Ethik als alternativer Pflichtgegenstand oder digitale Grundbildung. Es gibt den aus meiner Sicht komplett überhöhten Anspruch, dass jedes gesellschaftliche Problem in der Schule gelöst werden muss, weshalb die Begehrlichkeit für neue Schulfächer omnipräsent ist.
Man muss die Schule dahingehend umdenken, dass die reine Wissensvermittlung Fächer übergreifend eine geringere Rolle spielen wird. Es geht immer mehr darum, die Kompetenz zu erlangen, Dinge zu erkennen. Der humanistische Anteil an der Bildung und Ausbildung wird meines Erachtens sukzessive an Bedeutung gewinnen. Angesichts dieser Entwicklung wird man sich überlegen müssen, wie wir mit einzelnen Schulfächern umgehen.
Sie könnten sich also das Zusammenlegen von mehreren Gegenständen in ein Fach vorstellen?
Ja, ich bin der Meinung, man kann politische Bildung nicht mehr ohne Medienkompetenz denken, ohne die Fähigkeit, Quellen zu erkennen und sich daraufhin eine Meinung zu bilden.Hier gibt es beispielsweise eine große Überschneidung mit dem Deutschunterricht. Ich würde auch kein Fach wie politische Bildung einführen, in dem eine Form eines Debattierclubs nicht Teil des Unterrichts ist. Im anglosächsischen Raum ist das das state of the art, in Österreich ist das exotisch.
Muss Schule heute mehr leisten als zu Ihrer Schulzeit?
Absolut! Auch der Anspruch von Eltern an das System hat sich geändert – das beginnt bei der Elementarpädagogik geht weiter zur Schulsozialarbeit und Mental Health-Programmen. Aber ich sage etwas Unpopuläres: der Staat wird ein funktionierendes Elternhaus nie ersetzen können. Insofern ist die Erwartungshaltung an Schule zu hochgegriffen. Genau deshalb sieht das Regierungsprogramm Sanktionen für Eltern vor, die der Erziehung ihres Kindes nicht nachkommen oder für die Schule nicht greifbar sind, wenn es um den Bildungserfolg ihrer Kinder geht. Erziehung muss von den Eltern geleistet werden – das kann die Schule nicht kompensieren.
Was kann in der Schule nicht kompensiert werden?
Lehrer sind nicht dafür ausgebildet, Psychologen zu sein oder Integration zu leisten. Man muss die Schule deshalb auch dahingehend entflechten: Wenn man will, dass die Schule mehr zur Aufgabe hat als die Vermittlung von Bildung, dann muss man das Schulsystem adaptieren. Ich finde es vermessen zu sagen, dass Gewalt an Schulen von Lehrkräften gelöst werden muss. Die Lehrkraft ist weder Sicherheitspersonal noch dafür ausgebildet. Im Fall von Gewalt an Schulen muss es verstärkt eine Verschränkung mit der Jugendwohlfahrt und der Polizei geben.
Sind ÖVP, SPÖ und Neos eines Sinnes, was Lehrpersonal leisten und können muss?
Ja, das würde ich behaupten. Bildungsminister Christoph Wiederkehr hat in Wien gesehen, welchen Probleme manche Schulstandorte in der Bundeshauptstadt ausgesetzt sind. Er hat ein gutes Gefühl dafür, was geht und was nicht geht. Assistenzpersonal für Verwaltungstätigkeiten und Schulsozialarbeit sind im Regierungsprogramm genau deshalb festgeschrieben.
Allerorts wird nach Lehrern gesucht und auch deshalb um Quereinsteiger geworben. Birgt das auch die Gefahr, dass es weniger gut ausgebildete Lehrer geben wird?
Es muss gewährleistet sein, dass man über eine pädagogische Grundausbildung verfügt, wenn man eine Klasse unterrichtet. Lehrer sein muss man tatsächlich lernen. Grundsätzlich sollte sich die Schule auch nicht vor Quereinsteigern fürchten. Ein Problem bei der Akquise von jungen Lehrkräften ist ja, das sich heute kaum ein junger Mensch vorstellen kann, dass er nach der Ausbildung einen Beruf ergreift, den er bis zur Pension ausübt. In den Karrieren junger Menschen gibt es viele Brüche im Sinne von unterschiedlichen Berufen. Die Idee von „Teach for Austria“, die sehr gut angenommen wird, ist es ja, Menschen, die sich in der Wirtschaft verdient gemacht haben, dafür zu begeistern, einen Teil ihres Wissens an die Gesellschaft weiterzugeben.
Natürlich hatte ich schon ein Handy, aber es war nicht so präsent wie es heute ist. Ich war Digitalisierungstestimonial, wenn man so will. In meiner HAK waren wir eine der ersten Laptop-Klassen. Es haben sich damals schon viele Fragen gestellt, die sich auch heute in den aktuellen Debatten wiederfinden.
Was wird auch heute noch debattiert?
Wir haben unsere Deutschschularbeiten bereits am Laptop geschrieben. Damals wurde gefragt, ob man schummeln kann oder nicht. Spoiler: Man kann nicht schummeln. Wir haben auch unsere Matura mit dem Laptop geschrieben. Mein Grundsatz ist: Die Schule darf keine Seifenblase sein, die nach dem Schulabschluss zerplatzt und dann beginnt das echte Leben. Das echte Leben muss in der Schule stattfinden. Deshalb halte ich Diskussionen, die alles fernhalten wollen, für schlecht.
Das Handyverbot erachte ich als sinnvoll. Die Regelung, die wir beschlossen haben, besagt, dass das Handy sehr wohl erlaubt ist, sofern es im Unterricht genutzt wird. KI ist in der Schule übrigens nichts Neues, sondern wird schon seit Langem angewandt, auch wenn das manche nicht so sehen.
Was muss man heutzutage noch wissen oder eben nicht mehr wissen, weil man die KI befragen kann?
Man muss ein Grundwissen von wesentlichen Themen haben, weil man nur so Dinge interpretieren kann, die einem aus diversen ChatGPDs ausgespuckt werden. Wir befinden uns gerade in einer Entwicklungsphase, in der es darum geht, herauszufinden, welches Wissen ich auswendig parat haben muss und wo Grundwissen reicht, um es durch KI und ChatGPD anzureichern.
Um die Lesekompetenz oder das Beherrschen der Grundrechenarten ist es in Österreich nicht gut bestellt. 44 Prozent können laut einer OECD-Studie Fake-News nicht als solche erkennen. Wird die KI diese Entwicklung beschleunigen?
Die Grundkompetenzen werden in der Schule immer vermittelt werden müssen. Es geht aber auch immer mehr darum, welche Technologien und welches Wissen steckt hinter der KI, wie funktioniert ein Algorithmus. Manche Dinge, wie die Interpretation von Texten und die Identifierung von Quellen, sind heute weit komplexer und schwieriger zu erlernen als früher.
Können Sie dem Vorstoß, eines Social Media-Verbots bis 16 Jahren etwas abgewinnen?
Ich antworte mit einem Artikel der Tagespresse, der mit einem Social Media-Verbot für über 60-Jährige getitelt hat. Das soll nicht despektierlich klingen gegenüber der älteren Generation, aber Social Media betrifft uns alle. Eine Altersgrenze nach unten zu fordern und zu denken, damit sei das Problem gelöst, halte ich für den falschen Ansatz. Das Problem besteht quer durch alle Alters- und Bildungsschichten. Ein Verbot von Social Media bis 16 Jahren ist nicht des Rätsels Lösung.
Der Grund, warum wir in der Regierung noch nichts beschlossen haben, liegt nicht am fehlenden politischen Willen, Social Media in einer Form rechtlich zu regulieren oder aber den Jugendschutz in der Schule neu zu regeln. Die Frage, die wir uns stellen ist: Was kann neben dem politischen Willen und einer bloßen Ankündigung im Vollzug tatsächlich funktionieren. Es geht um Realitätssinn – das sehen wir auch in anderen Fällen.
Welche Fälle meinen Sie?
Instagram hat in seinen Nutzungsrichtlinien festgehalten, dass man die Plattform erst ab 14 Jahren nutzen darf. Wenn man sein Umfeld betrachtet, dann muss man sagen, dass das in der Realität oftmals nicht eingehalten wird. Das ist die Crux der Regelungen von Social Media: Sie sind gut gemeint, aber oft nicht erfüllt. Genau deshalb muss es über Österreich hinaus einen Schulterschluss geben. Es ist klar, dass der digitale Raum kein rechtsfreier Raum sein darf und kein uneingeschränkter Nährboden für Gewaltexzesse, Extremismus und Radikalisierung.
Österreich will die Social Media-Regelung an die EU-Ebene delegieren und dort diskutieren?
Wir brauchen kein Entweder-Oder, sondern nationalstaatliche Maßnahmen in punkto Awareness und Aufklärung bis hin zu EU-Richtlinien und direkten Regelungen mit den Plattformbetreibern. Wir brauchen einen Maßnahmenmix, von dem wir guten Gewissens sagen können, dass dieser in der Realität auch wirksam sein wird. Sonst wird es bei Floskeln bleiben. Das ist nicht unser Anspruch.
Wir sprechen derzeit oft von Verboten. Gibt es auch Gebote? Das Handyverbot, das ich vorhin skizziert habe, ist genau so ein Gebot: Wird das Handy proaktiv im Unterricht genutzt, dann ist es natürlich erlaubt. Der Umgang mit digitalen Endgeräten wird auch im Rahmen der digitalen Grundbildung vermittelt werden. Die Kompetenz mit diesen Geräten und Plattformen umzugehen, der ist genauso wichtig wie alle anderen Maßnahmen. Viele Kinder, Jugendliche und Eltern wissen gar nicht, wie man mit Smartphones umgeht, welche Vorteile, aber auch welche Risiken Plattformen mit sich bringen können. Das Spektrum reicht von Kostenfallen über Kindermissbrauchsbildern bis hin zu Cybergrooming.
Wir sprechen immer nur von den Schülern. Wer bildet die Lehrkräfte in diesem Bereich aus und fort?
Digitalisierung ist Teil der Ausbildung und der Fortbildung. Wie schnell Digitalisierung in der Schule angekommen ist, das haben wir während der Pandemie und beim Homeschooling gesehen. Ich glaube, dass alle Lehrkräfte aller Altersstufen den Anspruch haben, diese Fähigkeiten und Fertigkeiten zu besitzen.
Reglementieren Sie sich selbst bei Ihrem Social-Media-Verhalten?
Ich bin als Politiker nicht repräsentativ, denn ich muss es beruflich nutzen. Was ich wahrnehme, das ist der soziale Druck, der auf den Plattformen entsteht und diesen müssen wir ins soziale Bewusstsein rücken. Wenn man den Feeds auf Instagram folgt, dann sieht man, dass jeder den tolleren Urlaub haben will. Dass negative Dinge oft nicht geteilt werden, den vergisst man und dadurch entsteht ein verzerrtes Bild. Diese geschönten Bilder können einen Druck erzeugen, der die psychische Gesundheit in Mitleidenschaft zieht und den wir nicht kleinreden sollten.
Erachten Sie den psychischen Druck auf Heranwachsende als höher an?
Jeder kann sich an seine Pubertät erinnern, in der man sich auch oft unsicher fühlt, weil man sich erst findet und oft vergleicht. Wenn man in dieser sensiblen Phase auch im digitalen Raum unter Druck gesetzt wird, dann müssen wir dagegen etwas tun und vermehrt Bewusstsein dafür schaffen.
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